Textatelier
BLOG vom: 28.03.2008

Wartezeit, Zeitverluste: Hochkonjunktur der Nervensägen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Sie werden sich ins Fäustchen lachen, werter Leser, werte Leserin, denn in der Schweiz haben Sie es besser als ich hier in England. Aber Vorsicht: Lassen Sie sich nicht von der Globalisation und der grenzenlosen IT (Informationstechnik) anstecken. Seien Sie auf der Hut und wehren Sie sich konsequent als Kunde und Konsument!
 
Ja, zugegeben, ich ärgere mich heute mehr als früher. Der Grund dazu ist einfach: Die Ärgerquellen vermehren sich wie Kaninchen. Jene, die mir unnötig viel von meiner wertvollen Zeit rauben, ärgern mich am meisten.
 
Das Bank(un)wesen
Gestern hatte ich einen Besuch bei meiner Bank in Wimbledon vereinbart – punkt 10.30 Uhr. Ich erschien gewohnheitsmässig 5 Minuten früher – 10.25. 15 Minuten vertickten, wie ich im Vorraum wartete. Der Angestellte, damit betraut, den Kunden Beistand zu leisten, erschien endlich. Er hatte den Termin verschwitzt, mitsamt dem Zweck meines Besuchs, und fragte mich nach meinem Namen. Das Szenario entwickelte sich zeitraubend. Ich wollte einfach eine „Direct Debit/Credit“- Instruktion veranlassen, um den Zahlungsverkehr via PayPal zu vereinfachen, da ich mich hin und wieder via eBay von überflüssigen alten Tellern, Druckgrafik usf. befreie.
 
„Das geht nicht“, sagte er, „Sie müssen zuerst XXX tun.“ ‒ „Das muss gehen“, beharrte ich. Nach langem Hin und Her entschied er, sich beim Sitz der Bank zu erkundigen. Vielleicht hat er stattdessen im Raum nebenan eine Kaffeepause eingeschaltet … Nach 20 Minuten erschien er wieder. „Es geht nicht“, sagte er und schnitt ein betrübtes Gesicht. „Ausserdem haben wir hier keinen Internet-Anschluss.“ Und das wagt ein Bankangestellter dem Kunden zu sagen! „I am getting hot under the collar“ (es wird mir unterm Kragen heiss), sagte ich verärgert und verliess die Bank. Ich hatte eine gute Stunde verlümmelt. Fast wäre ich versucht gewesen, ihm zu sagen, dass ich darüber eine Depesche ans Textatelier.com schicken werde.
 
Bei meiner Schweizer Bank werde ich immer pünktlich und flott bedient, selbst übers Telefon. In England muss ich mich über jeden „Hafenkäse“ am Draht durchmausern, die richtige Taste erwischen und drücken. Sie haben es erraten: Erst jetzt beginnt die Geduldsprobe, und ich bleibe kleben. Musik berieselt mich. Dazwischen meldet sich eine Tonbandstimme: „Bitte warten.“ Das „Call Center“ in Indien ist überlastet, das Personal schlecht geschult und spricht ein englisches Kauderwelsch. Ich hänge wiederum verärgert auf.
 
Der Reiseverkehr und Stosszeiten
Ähnliches geschieht, wenn ich einen Flug – etwa mit „Easy Jet“ ‒ buchen will. Telefonisch geht das kaum mehr. So hat man seinen zeitaufwendigen Kampf, den Flug „online“ zu buchen. Dabei wird das arme Huhn, der Kunde, wacker gerupft – von Zuschlägen aller Unart, die sich nicht ausklammern lassen. Versucht man es, kommt der automatische Befehl: „Bitte den Rot angemerkten Teil ausfüllen.“ Man sieht dann tatsächlich Rot.
 
Und erreiche ich die Abflughalle, ob in Heathrow, Gatwick oder Standstead, muss ich mich mit unendlich viel Geduld wappnen. Jede Fluggesellschaft hat ihre eigenen Vorschriften, wie viel Gepäck man mitnehmen darf und wie gross und schwer die Reisetasche sein darf. Bald darf der Mensch keine Zahnbürste mehr mitnehmen. Schliesslich könnte ich damit jemanden erstechen. Die Zahnpaste wird bereits nicht mehr zugelassen. Selbst wer sich 2 Stunden vor dem Abflug in die Warteschlange einreiht, beginnt zu bangen, ob er den Flug noch erwischt. Ist man einmal eingebucht, geht das Spiessrutenlaufen weiter – bis zum Striptease. Eine Zahnplombe zu viel, ein Sulzer-Stahlknie? Der Fluggast wird wie ein Strauchdieb aufgehalten und abgetastet.
 
Hier stand ich vor 2 Wochen, zum Flug nach Prag gerüstet, erbarmungswürdig in Socken vor dem Leibwächter. Mantel, Jacke, Schuhe, Kleingeld, Hausschlüssel, Kamera, Aktentasche, Gürtel und Schuhe werden auf dem Laufband durchleuchtet. Bei solcher Nervensägerei ist es angeraten, immerfort freundlich zu lächeln. Nur keinen witzigen Kommentar abgeben! Das würde leicht missverstanden. Die Obrigkeit schreitet ein, und der Witzbold wird abgeführt. Ende gut, alles gut? Meistens ganz und gar nicht gut. Der Flug ist bestenfalls verspätet, schlimmstenfalls annulliert. Leider bin ich kein Laptop-Mensch. Mitten im Rummel kann ich kein Blog schreiben. Dazu brauche ich Stille, damit ich meine Gedanken sammeln und hören kann.
 
Wer klug ist, fährt mit der Bahn („Der Kluge fährt im Zuge“). Wollen Sie ein Billett beim Schalter lösen? Ein einziger Schalter ist offen. Die englischen Bahnen sind schauderhaft teuer, weil von Privatunternehmen gewinnträchtig betrieben. Wer beim Schalter, die Fahrkarte nach langer Wartepause kauft, zahlt obendrein noch eine Busse. Ausgerechnet über Ostern, wie zuvor über Weihnachten, sind viele Züge lahmgelegt: Die beste Zeit, um das Schienennetz zu warten.
 
Jetzt endlich komme ich dazu, in mein eigenes Fäustchen zu lachen. Wir haben Ostern glückselig zu Hause verbracht, lecker gegessen und einige gute Flaschen Rotwein genossen. Eigentlich sollte man Ostern heiligen. Aber ich kann es mir als „Freidenker“ erlauben, ungeschoren diese Freiheiten zu geniessen, umso mehr es draussen bitterkalt ist und schneit. Wie rasch dann die Stunden verstreichen! Wie leicht es mir dann ums Herz wird!
 
Ich bedaure die geplagten Arbeitnehmer, die sich zu Stosszeiten in die Metro einpferchen müssen. Ausgelaugt erreichen sie ihre Arbeitsplätze. Der Verkehrsweg zur Arbeit ist von „engineering works“ frühmorgens auf den Autobahnen Richtung London arg erschwert und kostet Zeit und Nerven. Signale fallen aus. Man bleibt im Tunnel stecken und kann in der Menge eingeklemmt nicht einmal seine Morgenzeitung entfalten. Immerhin brauche ich mich selbst nicht mehr zu bedauern. Um diese Zeit bin ich hellwach und schreibe … Die Vögel zwitschern im Garten. Die Birken spielen sich zu ihren Dirigenten auf, wie ihr Gezweig den Takt angibt, vom windigen Metronom angetrieben. Ich habe viel „quality time“ für mich gewonnen.
 
Lokale Postbüros werden geschlossen
Nach meinem misslichen Bankbesuch gilt es, einen Brief im lokalen Postbüro aufzugeben. Ich reihe mich in die Warteschlange ein. Hier geniesse ich die Wartezeit. Die Leute kennen einander und plaudern miteinander. Wie rasch dabei die Zeit verstreicht. Jetzt sollen diese heimeligen Postbüros geschlossen werden … Das hat eine Protestwelle ausgelöst.
 
Wer geht heute noch auf die Post im Zeitalter der E-Mail und Handy? Rechnungen werden übers Internet bezahlt. Kredite landen automatisch im Bankkonto. Automatisch? Nicht heute, da die Bank keinen Internet-Anschluss hat. Falls die Postämter überleben, werde ich ein Postkonto eröffnen und jenes bei der Bank schliessen.
 
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