Textatelier
BLOG vom: 13.06.2006

Distanz und Nähe signalisieren wir mit „Sie“ und „Du“

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Ich stand an der Ampel und wartete auf Grün. Hinter mir fuhr ein Lastauto einen Abhang hinauf und hielt auf dem Trottoir in meinem Umfeld an. Der junge Chauffeur sprang aus der Kabine, befestigte eine lose Blachenschnur und hetzte wieder zurück. Noch bevor er einstieg, rief er in meine Richtung: „He Du, gang uf d Sitä!“ (He Du, geh zur Seite, mach Platz).
 
Ich schob mein Velo nach links, rief aber dazu: „Chasch mer scho ,Sie' säge!“ (Du kannst mich schon mit „Sie“ ansprechen.)
 
Da schaute er auf, begriff, dass ihm eine Grossmutter geantwortet hatte. Er lachte schallend, und ich schmunzelte. Besser hätte er gar nicht reagieren können.
 
Diese Episode lässt mich über „Du“ und „Sie“ nachdenken. Einst trat das „Du“ nur im vertrauten Familien- und Freundeskreis auf. Am Arbeitsplatz gab das „Sie“ auch unter den Angestellten eine höfliche Distanz. Es galt grundsätzlich den Vorgesetzten gegenüber, jeder Autorität und jedem Menschen, den wir nicht näher kannten.
 
Als ich 1958 in die Kaufmännische Lehre eintrat, wurde ich, wie alle andern Lehrtöchter, mit „Sie“ angesprochen. Erst nach erfolgreichem Lehrabschluss boten die Vorgesetzten dann das „Du“ an. Als wir unwissend und scheu begannen, stärkte das „Sie“ unser Selbstwertgefühl und das „Du“ am Schluss der Ausbildung das Selbstbewusstsein.
 
In den 80er-Jahren, die wir heute als die unbeschwerten taxieren, wurde alles etwas lockerer. Die Lebensfreude schwang obenauf. Es bestand da ein Bedürfnis nach mehr Nähe, und wir lernten, uns zu umarmen. Von Plakaten hiess es einmal: „Sag doch einfach Du!“ Da brauchte es schon einen inneren Ruck, um aus der anerzogenen, höflichen Reserve herauszukommen. Aber gerade aus diesem Umbruch heraus ist uns ein gutes Stück Offenheit erwachsen und bis heute erhalten geblieben. Wir gehen seither unverkrampfter aufeinander zu, stellen uns öfters nur mit dem Vornamen vor.
 
Wenn ich im „Chornlade“ einkaufe, werde ich immer auf der Du-Ebene bedient. Das schätze ich sehr. Ich fühle mich dann zur Philosophie und zum Idealismus dieser Genossenschaft für Bio-Lebensmittel zugehörig.
 
Aber auch das „Sie“ hat einen neuen Stellenwert bekommen. Es ist entstaubt, hat etwas Glanz und respektiert eine Persönlichkeit in natürlicher Art. Es ist nicht mehr nur Formsache wie früher. Ich schätze es, wenn zum „Sie“ der Familienname angesprochen wird, und das geschieht meist dort, wo ein Geschäft nicht nur die Kundschaft, sondern auch den Menschen ansprechen will.
 
Und: Das „Du“ gehört selbstverständlich der Jugend.
 
Auch unter nächsten Nachbarn fehlt manchmal diese vertraute Anrede. Verständlich, denn sie ist verletzbarer als das distanzierte „Sie“. Ich habe es schon erlebt, dass ein angebotenes „Du“ aus Angst, ausgebeutet zu werden, zurückgewiesen worden ist. Widerstand gegen das „Du“ entwickelt sich auch, wenn es einen Befehl enthält, ohne dass wir einander kennen.
 
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