Textatelier
BLOG vom: 03.07.2008

Die Natur als Lehrmeisterin: Risse im Holz, Risse im Leben

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten
 
Letzte Woche traf ich zufällig auf einen ehemaligen Nachbarn von Zürich-West. Wir plauderten, und beim Adiö-Sagen fragte er mich, welche Blumen ich am meisten liebe. Er möchte mir an den neuen Wohnort Blumen schicken. „Natürliche Blumen, nichts Pompöses, nichts Künstliches!“ Da seufzte er. Er sagte dann, es könne schon eine Weile dauern, bis ich sie erhalte.
 
Gestern besuchten uns Freunde und brachten die Symbole Brot und Salz in die neue Wohnung, damit uns diese Grundnahrungsmittel nie ausgehen würden. Und dazu gehörte auch ein kleines Blumenarrangement putziger Art. Geschniegelt und zu einer Kuppe gebunden und aus der Mitte herausragend eine stramme Kornähre.
 
Solche Gebinde erwecken mein Mitleid. Die individuellen Naturen der Blumen werden nicht berücksichtigt. Sie sind in ein enges Korsett gebunden und müssen am Platz bleiben, weil sonst die Gesamtform zerfallen würde. Meist lasse ich ein solches Geschenk einen Tag und eine Nacht so stehen. Dann aber löse ich die Schnur oder die Stengel aus dem Kunststoffmaterial, in das sie gesteckt worden sind. Und ich stelle die Blumen in eine Vase, gerade so, wie ich es als Kind mit den Blumen aus der Wiese gemacht habe. Da kann ich dann rasch feststellen, wie sie sich ganz persönlich entfalten. Von der Kuppe ist sofort nichts mehr zu sehen. Die Natur darf sich zeigen, wie sie ist. Das Zusammenspiel von Blumen verschiedenster Art und Herkunft wird zur Augenweide. Der Bezug zu uns Menschen ist naheliegend. Auch wir brauchen einen persönlichen Freiraum, um die Talente einzubringen, die in uns stecken.
 
Floristinnen und Floristen mögen mir verzeihen, dass ich ihrer Blumenbindekunst kritisch gegenüberstehe.
 
Ähnliche Erfahrungen machte ich vor Jahren mit Holz. Primo brauchte für einen grossen Auftrag Akazienholz. Wir konnten es in Norditalien finden. Seine Freude war gross. Farbe und Struktur für ihn eine Entdeckung. Sobald dieses im Süden gewachsene Holz in Zürich eintraf, wurde es aufgeschnitten und gehobelt. In seiner Begeisterung wollte es Primo sofort mit anderen Hölzern kombinieren. Er fügte einen Akazien-Abschnitt von 5 x 7 cm mit 2 anderen, etwa gleich grossen Hölzern zusammen und umfasste das Gebilde mit einem 7 mm breiten Rahmen aus Birnbaumholz. Die Akazie durfte Mittelpunkt sein. Links und rechts je ein Obstbaumholz, abgetrennt mit einem dunklen Nussbaum-Furnier, der das südliche Holz noch mehr herausheben sollte. Dieses dreiteilige Objekt schenkte er mir als schöne Erinnerung an eine spannende Holzsuche im südlichen Nachbarland. Ich freute mich.
 
Die Signatur im Rahmen und das Datum 15-7-81 informiert über das derzeitige Alter dieses Objekts. Beinahe 27 Jahre. Schon bald nach der Herstellung zeigte sich ein Riss im Bereich des dünnen Nussbaum-Furniers, und wir verstanden den Wink. Es waren da drei verschiedene Hölzer, an verschiedensten Orten aufgewachsen, verschieden lange gelagert, verschieden ihre innere Feuchtigkeit, rücksichtslos zusammengefügt worden. Der Birnbaum-Rahmen, der sich bis heute als unverrückbar erweist, wurde für die Hölzer zu einem Gefängnis, die Spannung so gross, dass sie das Holz zerriss. Durch den Spalt kann mittlerweile ein 10-Rappenstück mühelos durchgeschoben werden. Es war eine Lehre fürs Berufsleben. Der Schreiner muss darauf achten, dass er in seinen Konstruktionen dem Holz immer einen gewissen Bewegungsraum zugesteht, damit es schwinden und wachsen kann.
 
Dieses kleine Objekt zeigte ich Mitte Juni in der Gruppe „60 plus“  im Kreis 5 der Stadt Zürich, als Primo und ich eingeladen waren, einen so genannten „kleinen Kulturtag“ zum Thema „Holz und Papier“ zu gestalten.
 
Dass Spannungen zu Rissen führen, verstanden die Anwesenden, als ich mein hölzernes Schaustück zeigte. Als ich dann auf den Rahmen als eine strenge Ordnung verwies, ging ein Raunen durch die Zuhörenden, wie man es nicht oft erlebt.
 
Spannungen aushalten müssen wir alle. Wenn aber das Mass die innere Flexibilität übersteigt, dann gibt es Risse. Dort wo wir am schwächsten sind. Unsere Ordnungen sollten so eingerichtet sein, dass sie einen minimalen Bewegungsraum ermöglichen. Auch Menschen wachsen und schwinden.
 
So erteilt die Natur ihre Lehren. Alles Lebendige braucht einen gewissen Spielraum. Auch wir Menschen in unseren Beziehungen, im Staat, am Arbeitsplatz, auch innerhalb der Religion, aber ganz speziell im eigenen Denken.
 
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