Textatelier
BLOG vom: 08.06.2011

Berliner Architektur: Rote Backsteine neben Glasmonumenten

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
„Vergebens blickt Verwunderung
Auf alte Völker hin:
Bewundert nicht! Es liegt an euch,
So gross zu sein wie sie!“
August von Platen: „An einen deutschen Staat“ (1832)
*
Was aus dem Trümmerhaufen Berlin innerhalb von rund 65 Jahren herausgewachsen ist, imponiert. Eine neue architektonische Sachlichkeit aus viel Glas steht anstelle, zusammen oder neben den schweren Monumentalbauten, wie sie sich in den Jahrhunderten stolzer Berliner Geschichte angesammelt hatten, von damals also, als sich diese Stadt seit dem 13. Jahrhundert aus den beiden typischen deutschen Kolonialstädten Berlin und Cölln (die nichts mit Köln zu tun hat) emporgearbeitet hatte. Diese waren anstelle zweier älterer slawischer Niederlassungen am Spree-Übergang zwischen Spandau und Köpenick entstanden.
 
Kolossal
Insbesondere ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts leitete die Begründung des preussischen Königtums (1701) eine neue Blütezeit ein, die allerdings durch Kriege unter Friedrich II. immer wieder Rückschläge erlitt. Die baukünstlerische Entwicklung mit ihrem Hang zum Kolossalen, vorab der gelegentlich gotisierende Berliner Klassizismus, hielt mit dem Bevölkerungswachstum und dem Aufkommen von Massenverkehrsmitteln mit der sich wandelnden Zeit kaum mit. Die Kräfte mussten auf Wohnblöcke und Siedlungsbauten umgelenkt werden, und in den Aussenbereichen entstanden Industrieanlagen in einem zuvor unbekannten Ausmass.
 
Die leichter als die granitenen Feldsteine zu bearbeitenden roten Backsteine waren ein häufig verwendetes Baumaterial, nachdem die Städte schon am Ende des 13. Jahrhunderts Zugang zu den Tonlagern und Produktionsstätten der Backsteine erhalten hatten. Auch für den Kirchenbau wurden die seriell hergestellten Backsteine, deren Anblick noch heute als angenehm und warm empfunden wird, verwendet. Eine regelrechte Backsteinarchitektur bildete sich heraus. So entstanden etwa gestaffelte Bögen im spitzen Bogenfeld, mit denen sich die Fensterpfosten verbanden. Im Allgemeinen aber bewirkte dieses Baumaterial eine gewisse Beständigkeit der Formen, im Gegensatz zur Haustein-Architektur. Ein schönes Beispiel für den Einsatz der roten Ziegelsteine ist das Rote Rathaus (1861/69), und es ist klar, dass die Farbe Rot hier nichts mit der politischen Gesinnung der sich abwechselnden Berliner Bürgermeister zu tun hat, ob sie damit überein stimmt (wie gerade jetzt) oder nicht.
 
Die Kriege richteten auch in Berlin grausame Verwüstungen an, wie sie das ja überall tun; auch das Rote Rathaus wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt. Es wurde 1951/58 wieder aufgebaut und Sitz des Ostberliner Magistrats. Nach der Wiedervereinigung konnte der Regierende Bürgermeister mit seinen Senatoren hier einziehen und die Entwicklung von Komplett-Berlin weiter vorantreiben.
 
Impressionen von einer Stadtrundfahrt
Am 28.05.2011 habe ich auf einer Stadtrundfahrt einige flüchtige Eindrücke gewinnen können, erstmals seit Ende 1964, als ich in journalistischer Mission beide Stadtteile besuchen konnte. Der zur Touristenattraktion verkommene Checkpoint Charlie ist heute weniger martialisch garniert und dient vor allem als Kulisse für Erinnerungsfotos mit einem als US-Soldat verkleideten Spassmacher. Damals, 1964, konnte ich unter den wachsamen Augen von Volkspolizisten (Vopos), die mit Maschinengewehren bewaffnet waren, die Grenze passieren. Propagandabänder („Die klare Perspektive der DDR ist der Sozialismus“) zeigten, wo’s lang ging. Die Kontrolleure stellten fest, dass einer der Pässe, welche die Journalistengruppe vorwies, abgelaufen war; doch wurde ein Auge zugedrückt, und wir konnten zusammen mit einer volkseigenen, freundlichen Führerin die Grenze passieren. Heute sind Teile der Stadtmauer noch als Bau- und Geschichtsdenkmäler zur Schau gestellt, von Orientierungstafeln üppig umrankt: „Topographie des Terrors“ steht als Überschrift zu lesen.
 
Ost und West verschmelzen
Inzwischen lösen sich die Unterschiede zwischen den beiden Berlin zunehmend auf. Im Ostsektor der Stadt huldigte man zwar dem neoklassizistischen Nationalstil, und im Westsektor setzte man die nach 1933 durch den Nationalsozialismus unterbrochene Bauhaus-Philosophie nach neuen Erkenntnissen und mit eigenen Baumaterialien fort. Nach der Dominanz der roten Backsteine übernahm zunehmend das spiegelnde und offensichtlich beliebig zu verbiegende Glas die Rolle des vorherrschenden Fassaden-Baustoffs. Die Kombination der massiven Repräsentativbauten, soweit sie Kriege überlebten oder wieder aufgebaut wurden, mit den riesigen, aber dennoch leichtfüssig erscheinenden Glashochhäusern tritt hier als neues und weitgehend überzeugendes Gesamtkunstwerk in Erscheinung. Die Loslösung von den Einflüssen der Industrialisierung und die Wiederbelebung des Kunsthandwerks, wie sie den Vorstellungen der Bauhaus-Gründer Henry van de Velde und Walter Gropius entspricht, gelang nicht mehr in der Urform; denn um industrielle Fertigungen kommt niemand mehr herum. Das Handwerk hat sich gewandelt, kann aber einem Bauwerk doch nach wie vor zu ästhetischem Mehrwert und Individualität verhelfen. Es war und bleibt die Krone des Bauens.
 
Einige Regierungsbauten im Spree-Bogen als architektonische Meisterleistungen wie das Reichstagsgebäude habe ich bereits im Blog vom 03.06.2011 („Berliner Reichtagshaus: Glaskuppel mit spiegelndem Rüssel“) gebührend gefeiert.
 
Die Spree mit dem grossen Ausflugsschiffsverkehr und die vielen Stadtpärke (inkl. der Tiergarten mit 200 Hektar Fläche) sind vielleicht späte Nachfolger des Berliner Lustgartens, den der Grosse Kurfürst Friedrich Wilhelm ab 1645 einrichten liess. Röhren zauberten melodische Klänge hervor, und unverhofft einsetzende Springbrunnen, welche die Besucher duschten, sorgten für Unterhaltung.
 
Der Potsdamer Platz
Berlin ist nicht an 3 oder 4 Tagen zu „machen“, besonders, wenn fixe Programmpunkte abzuarbeiten sind. Da ich im „Relaxa“-Hotel in der Nähe des Potsdamer Platzes untergebracht war, entschloss ich mich, den 10-Minuten-Ausmarsch zu jenem Platz zu unternehmen, um ohne grossen Zeitverlust eines der Zentren des pulsierenden Berliner Lebens zu ergründen. Die Zeit reichte nicht für einen Besuch des Kaufhauses des Westens (KaDeWe) an der Tauentzienstrasse im Stadtkreis Charlottenburg, der mir von verschiedenen Berlin-kundigen Bekannten dringend empfohlen worden war. Man kann halt nicht alles haben, auch nicht die 1000 Sorten Käse, die dort neben all den anderen Dingen im KaWeDe angeboten werden sollen, unter anderem.
 
Der nahe Potsdamer Platz war einst der belebteste Kreuzungspunkt von ganz Europa und in den wilden 1920er-Jahren ein Brennpunkt der Unterhaltungsindustrie mit dem turbulenten Nachtleben. Im 2. Weltkrieg (genau genommen: 1945) wurde diese ganze Umgebung und Herrlichkeit zerstört, und so blieb es dann auf Jahrzehnte hinaus; nur die Schatten der Mauer, Zirkusse und Flohmärkte sorgten in den Nachkriegsjahrzehnten für Belebung. Und nach der Wiedervereinigung war hier der Raum für die Wiederherstellung eines dynamischen Zentrums noch immer parat. 1992 kreuzten die Baumaschinen auf. Hier werden jetzt Glanzstücke moderner Architektur zelebriert; berühmte Architekten wie Renzo Piano, Helmut Jahn und Arata Isozaki haben sich ihre beeindruckenden Denkmäler gesetzt. Mehr als 25 Milliarden Euro sollen inzwischen unter und rund um den Postdamer Platz investiert worden sein.
 
Der Platz, wo sich 5 Strassen treffen, ist auf der Westseite mit hochhaushohen Glasmonumenten umbaut, die ins Debis-Areal des Daimler-Tochterunternehmens und des Sony-Centers, das wie ein Zeltdach einen Innenhof mit den einfallsreich gestalten Springbrunnen überspannt, hineinreichen. Letzteres gilt als der spektakulärste Neubau in Berlin. In ihm ist der mit Glaswänden eingepackte Kaisersaal untergebracht, der einst als Speisesaal des Grand Hotels Esplanade diente, ein Musterbeispiel von Luxus und Glanz.
 
Und auch der rote Klinker nach norddeutscher Bautradition ist am Potsdamer Platz wieder aus dem Schlaf erweckt worden – und zwar für ein Bürogebäude, gezeichnet von den Architekten Kollhoff & Timmermann, das als spitzwinkliges Dreieck mit der Spitze wie ein Messer auf den Platz zeigt. Nach der Feng-Shui-Philosophie wäre solch eine Zuspitzung verheerend, ein böses Omen. Aber hier sind die spitzen Winkel wie im Zentrum eines Schweizer Schachtelkäses eine Folge der vollständigen Ausnützung der gegebenen Platzverhältnisse.
 
Auch der Potsdamer Bahnhof aus dem Jahr 1838 ist wiederhergestellt. Auf der Suche nach einer Buchhandlung gelangte ich in die dortige Unterwelt – zu den Arkaden, wo sich auf 3 mit Rolltreppen verbundenen, geknickten Arkaden von 180 m Länge 133 Geschäfte, auch Cafés und Restaurants, befinden.
 
Psychiatrie-Schocks
Als ich mich wieder zum Tageslicht hinaufgearbeitet hatte, landete ich zufällig bei und sogleich in einem Zelt neben einem der Bahnhofeingänge, das die Aufschrift „Psychiatrie macht krank“ trug und eine „öffentliche Warnung“ verkündete, und ich gönnte mir den Abstecher in eine ganz anders geartete Welt, gewissermassen vom feststehenden Massiven zu den illusionären Verirrungen.
 
Mit Filmen und Orientierungsplakaten wurde „eine Geschichte voller Brutalität und Schrecken“ erzählt und auf die oft unqualifizierte Arbeit in psychiatrischen Praxen und die Risiken und Nebenwirkungen der Neuroleptika (blockierende Mittel, Psychopharmaka) aufmerksam gemacht. Sie können u. a. zur Unfähigkeit, zu sitzen, und einem gewalttätigen Verhalten führen, ebenso zu schweren körperlichen Auswirkungen wie eine Entkräftung. In einer Dokumentation der Citizens Commission on Human Rights (CCHR) aus Los Angeles steht, schätzungsweise 100 000 Amerikaner seien bereits an Neuroleptika gestorben. In der Psychiatrie („Pseudowissenschaft“) gebe es keinen Nachweis dafür, dass die „psychischen Störungen“, von denen dort gesprochen wird, überhaupt existieren, vernahm man da. Die Psychopharmaka beeinflussten lediglich die Symptome. Und diese seien die Folge einer unentdeckten Krankheit, die emotionalen Stress verursache. Und dennoch komme es immer wieder zu einer „’therapeutischen’ Zwangsfixierung in Anstalten“.
 
So kann man in der turbulenten Stadt Berlin auf Schritt und Tritt etwas erleben und erfahren.
 
Ganz in der Nähe lud das Abgeordnetenhaus (ehemaliger Preussischer Landtag) zu einem Besuch ein. Eine Bronzestatue des Reichsfreiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Steine (1757‒1831) steht davor. Und darum herum gruppieren sich 4 Eckfiguren: Wahrheit, Vaterlandsliebe, Energie und Frömmigkeit. Davon ist vor allem noch die Energie verblieben, die allerdings auch zu Mangelware wird.
 
Die älteste Verkehrsampel
Nach der Nachhilfe-Halbstunde in Psychiatrie suchte ich, von Seelennöten unbelastet, nach einem Orientierungspunkt, den ich bei der ersten automatischen Verkehrsampel Berlins vor dem Daimler-Quartier am Potsdamer Platz fand: eine Nachbildung des Originals mit einer Art Bahnhofuhr auf allen 4 Seiten, einer Kabine für den Verkehrsregler und 3 waagrecht angeordneten Ampeln.
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Inzwischen hat sich natürlich auch die Ampeltechnik so weit entwickelt, dass die Ampeln nicht mehr in der Waagrechten, sondern in der Senkrechten angeordnet sind ..., zumal es ja auf dieser verrückten Welt meistens eher hinauf und hinunter geht. Das Ebenerdige wird manchmal erzwungen – und sei es durch Bomben. Das Bodenverhaftete versinkt im Strudel der Zeitgeschichte und muss sich dann wieder irgendwie aufräppeln.
 
Bei all seiner jüngeren Historie – etwas Zuversicht schenkt Berlin halt doch.
 
 
Quellen
Imhof, Michael, und Krempel, León: „Berlin. Neue Architektur“, Michael Imhof Verlag, D-36100 Petersberg 2008.
Ominalowska, Malgorzata, und Scheunemann, Jürgen: „Berlin“, Dorling Kindersley, München, 2010/11.
Schulz, Paul Otto, und Pansegrau, Erhard: „Berlin“, Bruckmann Verlag, München 2000.
Streidt, Gert, und Feierabend, Peter: „Preussen. Kunst und Architektur“, Krönemann Verlagsgesellschaft, Köln 1999.
Wasmuth, Günther (Herausg.): „Wasmuths Lexikon der Baukunst“; Verlag Ernst Wasmuth AG, Berlin 1929.
 
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