Textatelier
BLOG vom: 08.05.2012

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne...“ (H. Hesse)

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Erste – zweite – dritte Welt: Das Hamburger Abendblatt vom 09.06.2007 beschreibt die Aufteilung der Welt in diese 3 Teile so:
 
Die Erste Welt bezeichnet Industrienationen, also reichere Länder mit hohem Lebensstandard. Dazu gehörten die G-8-Länder und Australien, Neuseeland, Argentinien, Chile, der Stadtstaat Singapur, Südkorea, Taiwan und die meisten anderen westeuropäischen Länder.
 
Die Zweite Welt beschreibt ehemals kommunistische Staaten ‒ die Verbündeten der damaligen Sowjetunion während der Zeit des Ost-West-Konfliktes zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten.
 
Die Dritte Welt war ursprünglich der neutrale, nicht militärische „Dritte Block", der sich 1961 in Belgrad hauptsächlich aus afrikanischen und asiatischen Staaten rekrutierte. Die Bewegung der blockfreien Staaten (NAM) umfasst heute 118 Länder mit 55 Prozent der Weltbevölkerung.
 
Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion verlor diese Einteilung jedoch an Bedeutung.
 
Der heutige Begriff Dritte Welt bezeichnet Länder, die eine geringe Entwicklung besonders in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereichen haben und nach Einschätzung der Welt-Handels-Organisation WHO als arm gelten.
 
Schwellenländer wie Brasilien oder Mexiko zählen traditionell mit zu den Entwicklungsländern, können aber an der Schwelle zum Status einer Industrienation stehen. Die Weltbank bezeichnet 10 bis 30 Staaten als Schwellenländer. (Gezeichnet: Hpkm.
 
Meiner Ansicht nach gibt es nur 1 Welt, keine 2, keine 3; andere Welten findet man bloss im Weltall!
 
Nach dieser Aufteilung gehört Indien zu den Schwellenländern. Laut wiktionary.org bedeutet das Wort „Schwelle“:
[1] unterer Querbalken eines Türrahmens, über den man zum Eintreten geht.
[2] Im bildlichen Sinne: an der Schwelle von etwas: am (zeitlichen oder örtlichen) Anfang von etwas.
[3] Minimalwert einer Grösse, ab der ein interessierender Effekt einsetzt (Relevanz, Wahrnehmung, Schalten und so weiter).
[4] Gleisbau: einer der Balken, auf denen die Gleise ruhen.
 
Indien befindet sich also an der Schwelle von etwas, gemeint ist wohl die „Entwicklung“ oder „Industrialisierung“. Bin ich beim Rückflug aus Indien wieder über eine Schwelle getreten?
 
Mir ist nur die Schwelle ins Flugzeug hinein bewusst. Das Flugzeug hat mich wieder in die „1. Welt“ gebracht. Der Flug brachte mich zuerst bis Dubai (wo sind die Arabischen Staaten denn bei der erwähnten Aufteilung einzuordnen?), dann weiter bis Düsseldorf. Dabei bin ich der Sonne hinterher geflogen. Der Zeitunterschied machte 3½ Stunden aus; ich bin also noch am selben Tag in Deutschland angekommen. Dort erwartete mich, abgesehen von meiner Frau und meinem Sohn, zuerst einmal ein Temperaturunterschied von 15 Grad C, der sich in den nächsten Tagen noch vergrösserte, und dann gemeinsame Sache mit Regenwetter machte.
 
Auf der Strasse erlebte ich hier in Deutschland den Rechtsverkehr, kein lautes Hupen, kein Nebeneinander von Rikschas, Motorrädern, Rollern, PKWs, Bussen und Lastwagen, sondern ruhig fliessender Verkehr, mit Blinken beim Spurwechsel, Einhalten der Geschwindigkeitsgrenzen, geduldiges Warten vor roten Ampeln.
 
Ich ging nach einem Abendessen mit Brot, das ich seit 4 Monaten nicht mehr gegessen hatte, gegen 23 Uhr ins Bett, in Indien war es 2.30 AM. Nach 4 Stunden war ich wieder wach, ungefähr zu meiner Aufstehzeit in Indien.
 
British Airways empfiehlt bei Jetlag das Suchen oder Vermeiden von Licht zu bestimmten Zeiten, wodurch Körper sich auf den Tagesrhythmus wieder „einstellen“ kann. Ein paar Tage hat es schon gedauert, bis ich meinen vor meiner Reise gewohnten Schlaf in der richtigen Zeit wieder erlangt habe. Auch mein Magen-Darm-Trakt hatte sich wieder an andere Lebensmittel zu gewöhnen, was ebenfalls ein paar Tage dauerte. Am meisten zu schaffen machen die Temperaturunterschiede. Heute sind es 9 Grad C, und ich gehe nur in dicker Winterkleidung mit Wollmütze auf die Strasse. Ein Besuch im Schwimmbad vor ein paar Tagen musste ich abbrechen; das Wasser war mir zu kalt und verursachte Wadenkrämpfe.
 
Meine Gedanken sind noch in Indien. Ich vermisse die Gewohnheiten, die ich mir als Alleinwohnender (single) angeeignet habe, ich vermisse meinen Unterricht, meine Schüler, ich vermisse das Essen, die bunte Mischung verschiedener Menschen, die ausserhalb der Wohnung immer um mich herum waren, den Strassenlärm, das bunte Treiben in den vielen kleinen Läden.
 
„Komm erst einmal an!“, sagten mir Freunde, die mich begrüssten. Ankommen, nicht nur physisch, sondern auch geistig, dauert länger als das Überstehen des Jetlags.
 
Ich lese das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, worin es heisst:
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
 
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
 
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
 
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Ist es der Jetlag“, den Hesse mit „Zauber“ bezeichnet, oder meint er nur den, den ich bei der Ankunft in Indien erlebt habe? Warum schreibt er nichts von Rückkehr? Warum schreibt er nichts vom Ankommen? Oder meint er das mit „jedem Anfang“? Dass es seine Zeit dauert, bis ich „angekommen“ bin?
 
Dabei waren es „nur“ 4 Monate. Wie lange dauert das „Ankommen“ nach einem oder mehreren Jahren der Abwesenheit? Das Sich-wieder-einleben? Viele, denen das passiert, haben nicht mehr das „Heimatgefühl“, das Zuhause-sein-Gefühl. Sie bleiben Fremde, dort, wo sie herkommen, und dort, wo sie waren. Fremdsein überall?
 
Raum um Raum durchschreiten“, „über die Schwelle treten“ – solche Aktionen sind in der heutigen Zeit schneller Flugzeuge in wenigen Stunden möglich. Früher dauerte es Wochen, Monate, oft auch Jahre. Damals gab es die Anpassung täglich.
 
Solch ein Aufenthalt in einer fremden Kultur verändert nach der Rückkehr auch den Blick auf die eigene Kultur. Das Gewohnte wird mit anderen Augen gesehen, wird verglichen, hinterfragt. Kein „Erschlaffen“ droht. Die Erinnerungen sind noch ganz wach. Sie werden ein wenig verblassen und mit „dem heimischen Lebenskreise“ verwoben.
 
Und, was nie wieder vergehen wird: das Fernweh! Wie lautete die häufigste letzte Frage bei der Verabschiedung vieler Menschen in Indien? „Wann kommen Sie/kommst Du wieder?“ Ist da nicht ein kleines Stückchen Heimat in der Fremde?
 
Hinweis auf die vorangegangenen Indien-Berichte von Richard Gerd Bernardy
 
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