Textatelier
BLOG vom: 03.08.2012

Erlebt man in Indien einen Kulturschock? Ganz ohne mich!

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
2 Modebegriffe begegnen sich in der folgenden Frage: „Du warst in Indien? Hattest Du einen Kulturschock, und dann noch so richtig Stress mit der Hitze?“
 
Die letzten Tage war in Deutschland Sommerwetter, teilweise über 30 Grad C heiss, etwas schwül, weil sich in diesen Breiten nach ein paar Tage Wärme gern gleich ein Gewitter ankündigt. Viele meiner Bekannten stöhnten. Sie konnten und wollten mich nicht verstehen. Ich trug noch bis 25 Grad eine Wolljacke über meinem langärmeligen Hemd und fühlte mich wohl. Die sogenannte Hitze machte mir nichts aus, hatte ich doch in Bangalore Ende April 38 Grad am Tag und 31 Grad in der Nacht erlebt, und die Luftfeuchtigkeit war mit den jetzigen Sommertagen vergleichbar. Als ich das erzählte, hörte ich häufig als Antwort: „Das ist nichts für mich, das könnte ich nicht aushalten. Indien ist kein Land für mich.“ Dann beschrieb ich, dass es im Januar in Bangalore noch so kühl war, dass ich nachts eine warme Decke brauchte und am Tag viele Inder mit einer Strickweste oder mit Jacket anzutreffen waren. Und in dieser Jahreszeit war es in Südindien, in Karnataka, Kerala und Tamil Nadu, ausgesprochen angenehm.
 
Es folgte die nächste Frage: „Hattest du keinen Kulturschock, die Armut, das Kastenwesen, die Menschenmassen, das Betteln, der Strassenverkehr, die Bürokratie, die Verkehrsmittel, die schlechten Strassen, das Ungeziefer.“ Meine Antwort: „Nein, ich hatte keine Probleme damit.“ Erstaunte Gesichter, Unsicherheit, ob ich so dumm oder so unsensibel sei.
 
Seit ein paar Jahren gibt es einen Werbeslogan: „Schock deine Eltern, lies ein Buch!“ So ähnlich könnte es sein; ich habe meine Gesprächspartner geschockt (schockiert). Die aufgeschlossenen davon fragten jetzt weiter: „Erzähl doch mal!“ – „Ich habe mich darauf eingestellt. Ich bin in einem anderen Land, mit einer völlig anderen Kultur und Denkweise, bei Menschen, die alle versuchen, sich zurechtzufinden und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die ihren Platz in dieser Gesellschaft haben und, ob man es glaubt oder nicht, zum grössten Teil damit zufrieden sind, egal, welcher Schicht oder Kaste sie angehören.“
 
Die Reaktionen waren unterschiedlich, von nachdenklich bis ungläubig. „Das muss doch schlimm sein, in einer unteren Kaste leben zu müssen und zu wissen, da niemals heraus zu kommen.“ ‒ „Ich hatte bei meinen Kontakten in Indien nicht den Eindruck, die Menschen seien unglücklich. Im Gegenteil, sie waren freundlich, lustig, haben gelacht, waren gastfreundlich und hilfsbereit. Menschen wie du und ich.“ – „Ich könnte das nicht aushalten. Ich würde mich unwohl fühlen. So ohne Rechte, zwangsverheiratet. Und dann diese seltsame Religion.“
 
Menschen mit diesen Auffassungen würde ich nicht empfehlen, nach Indien zu gehen, ausser vielleicht mit einer organisierten Gruppe, in der alles geregelt ist, das Hotel, das Essen, die Fahrten, die Besichtigungen. Kontakte mit Menschen, die im Slum leben, die betteln, die in kleinen Räumen sitzen und mit Handwerk ihren Lebensunterhalt verdienen, sind äusserst selten in diesen Fernreisen enthalten.
 
Der Angst vor dem sogenannten Kulturschock ist gross. Ursprünglich war der Begriff nicht auf Urlauber bezogen, sondern auf Menschen, die in einem ihnen fremden Land für längere Zeit leben und arbeiten. So wird der sogenannte „typische Verlauf eines zwei- bis dreijährigen Auslandsaufenthaltes“ in 7 Phasen beschrieben, von Wissenschaftlern wie E. Kopper, R. Kiechl und anderen:
 
Nach der Vorphase, also der Entscheidung, der Vorbereitung, dem Kofferpacken, dem Abschied, folgt die Phase A: „Ankunft und Entdeckung“ mit der Erforschung der neuen Lebensumstände und der -umgebung, optimistisch und euphorisch. Die Phase dauere 3 Monate. Die Phase B wird mit „Ernüchterung und Enttäuschung“, mit einer Verschlechterung der Gemütslage und erster Unzufriedenheit mit der neuen Lebenssituation beschrieben. Das Individuum sähe immer mehr unangenehme und störend wirkende Seiten der Einheimischen.
 
Die Phase C ist der eigentliche „Kulturschock“: „… die Reaktion eines kürzlich in eine ungewohnte Kultur versetzten Menschen auf kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene, die sich durch verschiedene Stress-Symptome ausdrückt“ (Kiechl, 1991, S. 299). Zu den typischen Symptomen, die durch einen Kulturschock ausgelöst werden, zählen vor allem Heimweh, Schwermut, Nervosität, Reizbarkeit, Ess- und Schlafstörungen, Müdigkeit, Langweile oder auch psychosomatisch bedingte Anzeichen wie Kopfschmerzen und Verdauungsprobleme.
 
Phase D umfasse wieder einen gefühlsmässigen Aufschwung „ungefähr 6 Monate bis höchstens 1 Jahr nach Ankunft im Ausland.“ Phase E sei dann die Konsolidierungsphase. „Es lässt sich leben im Ausland“. Aber irgendwann geht es wieder zurück in die Heimat und in der Phase F komme der „Rückkehrschock“. Der Rückkehrer habe sich weiter entwickelt und die Kolleginnen und Kollegen und die Familie nicht. Neue Sichtweisen und entwickelte Verhaltensweisen würden nicht verstanden oder akzeptiert. Der dadurch entstehende Stress führe in eine repressive Phase. Es muss noch die Phase G folgen, die „Reintegrationsphase“.
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Die Abschnitte, die ich ausserhalb von Urlaubszeiten im Ausland verbracht habe, waren zwischen 4 Monaten und zirka 2 Jahren lang. Die längste Phase war allerdings zeitweise durch ein Pendeln zwischen verschiedenen Ländern gekennzeichnet, wohnen in den Niederlanden, arbeiten in Deutschland. Das zähle nicht, höre ich öfters, die niederländische Kultur unterscheide sich nicht stark von der deutschen. Ich widerspreche: Es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden, die oft unbekannt sind. Davor kam ein Jahr in Grossbritannien.
 
Ich muss gestehen, dass ich mich an die oben genannten Phasen nicht erinnern kann. Auch in Indien – zugegeben, nach dieser wissenschaftlichen Theorie war ich nicht lange genug dort – hatte ich keinen „Kulturschock“. Wenn ich meinen Gesprächspartnern erzähle, dass ich mich 4 Monate lang einfach wohl gefühlt habe, ernte ich häufig ungläubiges Erstaunen – aber es war wirklich so.
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Der Begriff „Kulturschock“ wird gern auch auf Urlaubserfahrungen angewandt. So listet Focus unter dem Titel „Woran Indien-Reisende verzweifeln“ eine Reihe kultureller Unterschiede auf und titelt sie so: „One Rupee, please, Frauen allein unterwegs; Indiens flexible Zeiten; das Kastenwesen; öffentliche Verkehrsmittel; Behördengänge; Handeln, handeln, handeln; Krankheiten und Co.; Höflichkeit und Härte; Lebensgefahr im Verkehr.“
 
Jetzt lesen Sie bitte noch einmal nach, was ich oben unter der Phase C beschrieben habe. Ich meine, wenn ich im Ausland Urlaub mache und nicht nur 3 Wochen am Strand liegen oder mich in einer Reisegruppe durch die Gegend fahren lassen will, sondern – und darin sehe ich den Sinn eines Auslandsaufenthaltes – „Land und Leute kennenlernen“ möchte; kann ich dann davon ausgehen, dass alles so ist, wie ich es zu Hause gewöhnt bin? Ich meine nicht! Dass Reisende, die so eingestellt sind, dann Stress empfinden, ist verständlich. Sie fahren in das Land und sehen alle ihre eigenen Vorurteile bestätigt.
 
Ich weiss, was mit den Überschriften gemeint ist: die über Jahrtausende gewachsene Kultur, woraus sich alles entwickelt hat – das Bettlerwesen, die Kontaktfreudigkeit indischer Zeitgenossen, die gelegentliche Unpünktlichkeit, die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, das Gedränge in Bussen und Bahnen, der Bürokratismus und die damit einhergehende Geduld, die aufzubringen ist; dass man Handeln muss, will man nicht als Ausländer übervorteilt werden; mögliche Krankheiten, wie Magen-Darmbeschwerden, hervorgerufen durch Lebensmittelverzehr; die ungewohnte Mentalität bei Meinungsverschiedenheiten und der angeblich gefährliche Strassenverkehr. Man kann sich über alles aufregen und daran verzweifeln, meinen, im Heimatland sei alles besser, und dabei vergessen, wie hilfsbereit, grosszügig, gastfreundlich, verständnisvoll, zuvorkommend, tolerant, humorvoll, kommunikativ die Menschen sind. Und wie viel Faszination das Land bietet! Der Slogan für den Tourismus heisst: Incredible India! ‒ Und der stimmt!
 
Phase E erleben Urlauber oft nicht mehr: Es lässt sich leben in Indien! Grundbedingung ist Toleranz, Aufeinander Zugehen, das Erlernen ungewohnter Situationen und ein Stück Gelassenheit.
 
Kulturschock? Vergessen Sie’s!! Die vielfältigen Möglichkeiten, sich über das Land, in das man fahren will, zu informieren, sinnvoll nutzen und die richtige Einstellung zu unbekannten Lebensgewohnheiten zu gewinnen, reicht aus!
 
Quellen
„Was ist Kulturschock und wie gehe ich damit um?“, in: Kopper, E., Kiechl, R. (Hrsg.): Globalisierung: Von der Vision zur Praxis, Zürich, S. 31– 43.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Indien-Berichte von Richard Gerd Bernardy
 
 
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