Textatelier
BLOG vom: 09.01.2013

Indien: Unser Überlegenheitswahn und fremde Länder

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Angesichts der Meldungen über die Vergewaltigung mit Todesfolge in Indien und die Berichte und Kommentare in den westlichen Medien darüber stellt sich die Frage, ob „wir“, die wir in sogenannten entwickelten Gesellschaften leben, uns erlauben können, den moralischen Finger zu heben.
 
Da wird von häufigen Vergewaltigungen in Indien geschrieben, als ob es diese in den westlichen Ländern nicht gäbe. Umfragen und die Statistik sagen etwas ganz anderes aus. Die Zahlen können nicht genau sein, die Dunkelziffer ist hoch und kann nicht erfasst werden.
 
Repräsentative Studien in den USA gehen davon aus, dass 15–25 % aller Frauen in ihrem Leben mindestens 1 Mal Opfer einer Vergewaltigung werden. In Deutschland wurde in einer Befragung ermittelt, dass 14,5 % aller Frauen mindestens 1 Mal im Leben Opfer von Übergriffen sexueller Art werden. Während in der Schweiz jährlich nur etwa 600 Vergewaltigungen angezeigt werden, hat Schweden die höchste Quote in Europa. Trotz der grossen Zahl ist es ausgesprochen selten, dass Fälle hier in Deutschland in den Medien so gross herausgestellt werden, wie jetzt der Fall in Indien.
 
Da die Medien mit diesen Berichten Aufmerksamkeit erzeugen wollen, bleibt es nicht beim aktuellen Fall. Natürlich werden sofort auch Schwangerschaftsabbrüche, besondern bei weiblichen Föten in Indien, mit angeklagt. Auch hier sollten ebenso die Zahlen hierzulande erwähnt werden. Laut dem Statistischen Bundesamt werden in Deutschland 16 % der Schwangerschaften abgebrochen, 2011 waren das knapp 109 000 Fälle. Die Schweiz liegt mit 13,3 Abbrüchen pro 100 Geburten am unteren Ende. In Europa sind es wahrscheinlich nicht überwiegend nur weibliche Föten, was womöglich ein spezielles Problem in Indien ist.
 
Über ein weiteres Thema – bezogen auf Indien – wird ebenso gern berichtet: Es gibt Kasten, und besonders Angehörige der unteren hätten keine Chance, aufzusteigen. Tatsache ist, dass es eine parlamentarische Vertretung für die Dalits gibt, dass Angehörige dieser Kaste bis in höchste politische Positionen aufgestiegen sind, dass es in den Städten keinerlei Einteilung in Kasten gibt, und dass so eine Diskriminierung auch verboten ist. Besonders in ländlichen Gebieten gibt es bestimmt noch viele Missstände für diese Bevölkerungsgruppe. Auch der Zugang zu Bildung ist noch schwierig, aber nicht unmöglich. Es gibt viele Initiativen zur Abhilfe, nicht nur die vom Ausland unterstützten.
 
Und wie sieht das z. B. in Deutschland aus? Die letzte Bildungsstudie weist darauf hin, dass Kinder, deren Eltern ausländischer Herkunft sind, weniger Chancen haben, einen höheren Schulabschluss zu erlangen, als deutsche.
 
Natürlich lässt sich das alles nicht vergleichen! Ich werfe ganz bewusst Zahlen und Fakten durcheinander. Ich will damit jedoch etwas aufzeigen: Meines Erachtens ist hier ein „Überlegenheitswahn“ im Spiel. „Wir“ sind doch die „entwickelten“ Länder! Bei uns ist doch alles besser! Das ist doch klar!
 
Ich frage mich dann, was die meisten Menschen hier in Europa überhaupt von einem Land wie Indien wissen. Was kann man wissen? Ein Land mit über 1,2 Milliarden Menschen, 28 Bundesstaaten und 14 zusätzlichen Unionsterritorien, ein Land, das lange Zeit kolonialisiert war, das die Gesetzgebung der Briten übernommen und dann teilweise geändert hat, ein Land mit einem Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich der Alphabetisierung usw. Festzustellen ist, dass Indien formell gesehen einen hohen Menschenrechtsstandard aufweist und auch Signaturstaat der Menschenrechtskonventionen ist.
 
Europa, inklusive Russland bis zum Ural, hat zirka 700 Millionen Einwohner und besteht aus etwa 50 Ländern. Wissen wir denn alles über die 50 europäischen Länder, beispielsweise über Probleme in Bulgarien, Rumänien, der Slowakei u. a.?
 
Die deutschen Medienhäuser beschäftigen nur wenige Korrespondenten, die in den sogenannten Entwicklungsländern tätig sind, für ganz Asien dürften es nicht mehr als 30 bis 40 sein. Da werden Berichte produziert, die punktuell und nur auf einen sehr kleinen geografischen Bereich bezogen sind, aber dann gerne verallgemeinert und generalisiert werden. Motto: Wenn es dort so ist, muss es allgemein überall so sein. Und dann werden Berichte von Presseagenturen übernommen und vervielfältigt. Ausserdem: Für die verantwortlichen Redakteure muss die Auslandsberichterstattung aus den „Entwicklungsländern“ meistens eine Dauerkrisenberichterstattung sein.
 
Wenn diese Art der Berichterstattung beispielsweise auf Europa übertragen würde, hätten wir überall in Europa gleiche und ähnliche Probleme, überall ethnische Diskriminierungen, z. B. bei Sinti und Roma, wie in Rumänien und anderen Ländern, in der diese Völker grössere Anteile an der Bevölkerung haben.
 
Es ist einsichtig, mit was für einem Unsinn wir aus den Medien gefüttert werden!
 
Die Probleme der Berichterstattung werden sehr gut auf der Website http://www.fremdeweltganznah.de/ dargestellt. Wenn man die dort angebotene Broschüre herunterlädt und durcharbeitet, sieht man Medienberichte ganz anders!
 
 
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