Textatelier
BLOG vom: 18.11.2013

Sondermüll-Wanderung Kölliken-Walterswil mit Rückblenden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Sondermüll-Exkursionen sind keine Schönwetterfahrten ins Himmelblaue, sondern Begegnungen mit jenen Exkrementen der Zivilisationsgesellschaft, die man lieber nicht hätte. Denn das journalistische Handwerk verschlägt einen nicht nur zu Versammlungen in geschützten Räumen, an sonnige Strände, in kulturtriefende Städte, auf Baustellen oder in die Berge, sondern auch dorthin, wo man gern wegschauen möchte. Jedenfalls passte das Wetter am Montag, 04.11.2013, zu einer Wanderung an Orte, wo Giftabfälle Geschichte schrieben und schreiben. Wir hatten uns vorgenommen, den heutigen Zustand in der Gegend von Kölliken AG und Walterswil SO zu ergründen, so weit dieser überhaupt zu ergründen ist. Es war um 7 °C kalt, ebenso regnerisch wie windig. Hertha Schütz-Vogel aus Unterentfelden AG (74) und ich (77) hatten dieses Datum ohne Blick auf meteorologische Prognosen aus freien Stücken ins Auge gefasst. Abgemacht war abgemacht.
 
Der durstige Raum Aarau
Das Regenwasser, dem ich bei der vormittäglichen Fahrt über Aarau und den Distelberg nach Unterentfelden begegnete, stimmte mich behutsam auf das Thema ein: Ohne einigermassen reines Trinkwasser kommt niemand über die Runden. Beispiel Aarau: Über 600 Jahre lang versorgte sich diese Stadt grösstenteils mit Trink- und Brauchwasser aus dem offenbar nicht ganz ungetrübten Stadtbach, bis es 1854 zu einer Cholera-Epidemie mit 81 Todesopfern kam. Deshalb wurde sogleich eine Hochdruckwasserversorgung mit einem Reservoir im Oberholz gebaut. Ab 1917 fügte man dem dort gesammelten Wasser auch Quell- und Grundwasser zu, das aus dem Suhrental der zur Kantonshauptstadt avancierten Siedlung in mehr als ausreichender Menge zufloss. Das Oberholz (Gemeinde Suhr) wurde um 1985/87 auf eine Liste als Standorte für längerfristig nutzbaren Deponieraum gesetzt, ein hirnrissiges Projekt als Hügelbau mit Bezug zur Strasse Suhr-Hunzenschwil, das um 2010 den Weg alles Irdischen genommen hat.
 
Heute fördert die IBAarau jährlich etwa 4 Mio. Kubikmeter (m3) Trinkwasser mit 4 Pumpwerken aus den Grundwasserströmen des Suhren- und Aaretals. Das Unternehmen verteilt das Wasser in Aarau mit dem Ortsteil Rohr, in Küttigen, Unterentfelden, Erlinsbach (nur während Trockenperioden) und Eppenberg-Wöschnau SO. Für Notfälle bestehen auch Vereinbarungen zur Wasserlieferung an Oberentfelden und Suhr. Biberstein hat eigene Quellen aus dem durchklüfteten Jurahügelzug.
 
Handlungsbedarf im unteren Suhrental
Ich holte Frau Schütz am Rande des Unterentfelder Siedlungsgebiets um 10 Uhr ab, eine fröhliche, unternehmungslustige Persönlichkeit. Sie kam gleich zur Sache, erteilte mir eine Nachhilfelektion in Geografie mit besonderer Berücksichtigung der Fliessgewässerkunde des Suhrentals. In Kölliken aufgewachsen, wo sie auch anschliessend jahrzehntelang lebte, kennt Frau Schütz die Landschaft schliesslich genau.
 
Die Gewässer des Suhrentals sind in einem desolaten Zustand, wie selbst die Abteilung Umwelt des Baudepartements des Kantons Aargau am 13.05.2004 in der „Entscheidungsgrundlage ,Ganzheitliche Gewässerplanung im Einzugsgebiet Suhrental’“ amtssprachlich festhielt: „Insgesamt ist der Zustand des Einzugsgebietes als ungenügend zu bezeichnen. Der Handlungsbedarf ist vor allem in den Bereichen Wasserqualität, Gewässerlebensraum und Schutz vor Hochwasser gross.“
 
Im Amtsdeutsch ist der Begriff „Handlungsbedarf“, der im genannten Bericht immer wieder auftaucht, als eigentliches Alarmzeichen zu werten. In Bezug auf das Suhrental hat es seine Berechtigung: Die strukturarmen, stark verbauten Gewässer wie die Uerke und Suhre sind mit Abwasser, Nähr- und Schadstoffen belastet. Diese stammen nach Angaben des erwähnten Amts aus ARA-Einleitungen, Direkteinleitungen aus Trennsystemen, Strassenentwässerungen und von der Landwirtschaft. Und sicher kommen, wie ich beifügen möchte, auch Sickersäfte aus den Deponien von Walterswil hinzu.
 
Selbst kleinen Gewässern wie dem Köllikerbach und dem Mülibach, denen unsere besondere Aufmerksamkeit galt, sieht man an, dass sie ihre Jungfräulichkeit verloren haben. Sie schauen betrübt und getrübt aus den am Reissbrett erfundenen Rinnen heraus. An ihren ziemlich steilen Ufern haben die massiven Regenfälle die hohen, wohlgenährten Grasbüschel aus der Seggen-Kollektion flachgelegt. Denn bei starkem Regen fliesst viel Abwasser an den Kläranlagen vorbei; das ist überall so. Der Verdünnungseffekt tut seine Pflicht und Schuldigkeit; doch die Schmutzfracht bleibt mengenmässig erhalten. Dieser Effekt ist eine willkommene Unterstützung im Bemühen, grössere Giftmengen loszuwerden, ohne die entsprechend angesetzten Grenzwerte zu überschreiten – die Sintfluten helfen aus der Patsche, brauchen also nicht immer eine Strafe Gottes für die Schandtaten der Menschheit mit dem Hintergedanken der Zivilisationsvernichtung zu sein.
 
Die ARA Kölliken
Frau Schütz und ich folgten der Uerke und dem Köllikerbach gegen die Fliessrichtung; wir beide sind es schliesslich gewohnt, gegen Ströme anzugehen. Der Köllikerbach neben dem Kanalweg fliesst nahe an der Abwasserreinigungsanlage (ARA) Kölliken beim Mattenhof vorbei. Sie steht wie eine Betonkirche aus der Mitte des 20. Jahrhunderts mit 2 eckständigen, runden Seelensilos, Pfarrhaus und Versammlungsräumen in der ebenen Talsohle, dient aber ausschliesslich profanen Zwecken – der Abwasseraufbereitung eben. Eine grafisch schön gestaltete Orientierungstafel mit den auf länglichen Schildchen mit Zwischenräumen aufgelisteten Gemeindenamen, verbunden mit 2 von oben nach unten verlaufenden Wellenlinien in Blau und Rot, welche den ARA-Eingang verschönern, gibt Kunde von den 7 Gemeinden, die ihr Abwasser neuerdings hierhin liefern: Bottenwil, Holziken, Kölliken, Safenwil, Uerkheim, Wiliberg und das solothurnische Walterswil(-Rothacker). Die ARA wird vom Abwasserverband Region Kölliken (Präsident: Guido Beljean) betrieben.
 
Es handelt sich um eine handelsübliche Belebtschlammanlage mit Tiefenbelüftung und chemischer Phosphor-Elimination bzw. -Umwandlung, wie sie heute in praktisch allen Kläranlagen für häusliche Abwässer vorhanden ist. Phosphate, die Schwermetalle mobilisieren können und gern aufschäumen, stammen vor allem aus Waschmitteln und aus Düngemitteln. Auch ist in der ARA Kölliken eine anaerobe Schlammfaulung mit Gasnutzung in einen Blockheizkraftwerk vorhanden. Die ARA Kölliken stammt aus dem Jahr 1968 und wurde 2006 ausgebaut. Als Vorfluter, in den das gereinigte Wasser abgegeben wird, dient wenige Meter weiter unten die mit dem Köllikerbach fusionierte Uerke, welche später die Suhre anreichert.
 
Im Kölliker Dorfzentrum warfen wir einen Blick in den Mülibach, ein bescheidener Beitrag zum Suhrentaler Fliessgewässerkomplex, der wieder einmal durchgespült werden müsste.
 
Die oberflächlich fliessenden Gewässer bilden zusammen mit dem Grundwasser ein einheitliches, vernetztes und durchlässiges System. Und unter einer verschmutzten Oberfläche kann kein reines Grundwasser fliessen. Es ist jetzt eine Mixtur.
 
An der SMDK Kölliken vorbei
Nach der Gewässerlektion fuhren wir talaufwärts Richtung Safenwil und kamen an der uns vertrauten Grossdeponie Kölliken vorbei, die hermetisch abgeschlossen ist. Über der leicht abfallenden Halle wölbt sich eine weiss lackierte Stahlkonstruktion mit einem Gesamtgewicht von 8500 Tonnen, die eine Fläche von rund 40 000 m2 überdeckt. An den aus Deutschland angelieferten Trägern, bis zu 170 Meter lang und bis 170 Tonnen schwer, ist die Hallendecke aus verschweissten Kunststofffolien aufgehängt (Hallenkosten: über 100 Millionen CHF). Damit die Deponiegase nicht in die Umwelt gelangen, erzeugt eine Entlüftungsanlage im Innern einen schwachen Unterdruck.
 
Die Vermeidung von tragenden Stützen im Hallenraum erlaubt es, dass dort mit Baggern und dergleichen Gerät frei zirkuliert werden kann und keine Löcher durch die Lehmschicht im Grundwassergebiet abgeteuft werden mussten. Dieses ingenieurtechnische Meisterwerk ist eigentlich eine Landschaftsbelebung – es wird als schön empfunden, weil die Technik mit der Aufgabe übereinstimmt (wie bei einer Brücke, einem Kühlturm usf.).
 
Ohne die Frau Schütz, die neben mir im Prius sass, sähe es hier wahrscheinlich nicht so aus. Ob es überhaupt einen Rückbau gäbe? Der SMD-Inhalt wird gegenwärtig in einer mehrere Jahre beanspruchenden Zeitspanne entfernt, Tonne um Tonne, Bahnwagen um Bahnwagen. Das Konsortium, das für den Abtransport und die Umwandlung von 608 000 Tonnen Sondermüll bluten muss, besteht aus den Kantonen Aargau und Zürich (je 41 2/3 Prozent), der Stadt Zürich und der Basler Chemie (je 8 1/3 Prozent). Der deutsche Anlieferer Walter Reinger kam ungeschoren davon.
 
Die Vorgeschichte
Die Bewilligung der Deponie, für die abwechslungsweise Bezeichnungen wie Kehrichtdeponie und Sondermülldeponie gewählt wurden, war ein komplizierter Prozess. Das Baugesuch für eine Kehrichtdeponie(!) lag ab dem 12.02.1976 in der Gemeindekanzlei Kölliken auf. Am 19.03.1976 erteilte das Baudepartement des Kantons Aargau den Tonwerken Keller AG die „Bewilligung für die Anlage einer geordneten Deponie für Sondermüll". Und am 24.05.1976 bewilligte der Gemeinderat Kölliken seinerseitsder Tonwerke AG eine „Kehrichdeponie" . Daraus ergibt sich, dass nie eine Sondermülldeponie bewilligt wurde. Ein Einsprecher, der Anwohner HM. Plüss, liess im Dezember 1976 auf privater Basis ein „Pflichtenheft für den Betrieb einer Sondermülldeponie" ausarbeiten, das von den an der SMDK-Beteiligten unterschrieben (aber nicht eingehalten) wurde. Nach diesem Dokument hätten „keine Gifte" eingelagert werden dürfen. Die Sondermülldeponie erhielt erst im Januar 1978 eine Art amtlichen Segen mit der Gründung einer „Gesellschaft zur Finanzierung für den Bau und Betrieb einer Sondermülldeponie in Kölliken".
 
Nachdem die Baubewilligung für die Kölliker Mülldeponie erteilt war, führte die anfänglich angefeindete Einwohnerin von Kölliken namens Schütz über 25 Jahre lang ein Tagebuch über die Deponie, sammelte Presseberichte und Behördenentscheide. Ich selber war damals beim „Aargauer Tagblatt“ für Umweltfragen zuständig. Wir Zeitungsmacher alter Schule nahmen uns gravierenden Vorkommnissen auch dann an, wenn sie sich ganz in der Nähe und nicht nur im weit entfernten Japan oder China zutrugen, ohne irgendwelche Spur von Industriefeindlichkeit zu entwickeln. Doch hatten zu jener Zeit Umweltfragen noch das ihnen zustehende Gewicht. Man setzte sie in Beziehung zum Überleben aller Arten von Lebewesen, die in einer gegenseitigen Abhängigkeit stehen.
 
Frau Schütz zeigte mir bald nach der SMDK-Eröffnung, vor etwa 35 Jahren also, einige Dokumente, und ich spürte schon damals ihr selbstloses Engagement. Es wäre von mir als Pressevertreter feige gewesen, solchen Hinweisen nicht nachzugehen, einfach darüber hinwegzusehen. Ich hätte vor mir selber nicht bestehen können; es gibt ja so etwas wie eine Berufsethik und damit den Zwang zur wahrheitsgetreuen Berichterstattung, wozu das Totschweigen sicher nicht gehört. Dass man bei solchen Gelegenheiten auf heftigen Gegenwind stösst, gehört zum Risiko im Journalismus. Also schaute mich bei der stillgelegten Tongrube (Ziegelei) am oberen Dorfausgang von Kölliken immer wieder um, machte in Bezug auf anfallende Informationen Plausibilitätskontrollen und verschaffte mir Zutritt zur Deponie, in die immer mehr Fässer angeliefert wurden – unter wachsendem Protest des Eingangskontrolleurs übrigens. Im Prinzip wussten weder er noch sonst jemand genau, was in den Fässern angeliefert wurde. Detaillierte Untersuchungen der rostenden Pandora-Büchsen wären zu aufwändig und kostspielig gewesen, so dass man sich mit Selbstdeklarationen der Lieferanten zufrieden gab: ölverseuchte Erde, leere Batterien, Abfälle aus Akkumulatorenfabriken, Filterasche, Schlacke aus Kehrichtverbrennungsanlagen usw. Auch Süddeutschland nützte die Gelegenheit zur Entsorgung.
 
Dank einer gewissen Vorbildung in Chemie konnte ich mir ausmalen, dass in solch einem Deponiekörper mit seinen zerfallenden Fässern allerhand diffuse Reaktionen ablaufen würden. So kam es beispielsweise 1982 und 2008 zu Bränden durch Selbstentzündung von Magnesium; nach 2 Bränden von 2008 mussten die Rückbau-Arbeiten für ein halbes Jahr eingestellt werden, um die Sicherheit zu verbessern. Feuerwehren hatten einen Wallfahrtsort.
 
Ich berichtete in der Zeitung immer wieder, wenn ich neue Erkenntnisse aus meiner rudimentären Feldforschung zusammengetragen hatte. Frau Schütz wohnte damals noch in Kölliken und versorgte mich mit brisanten Informationen, schöpfte aber ausschliesslich aus frei zugänglichen Quellen. Am Schluss waren die Fakten im Hinblick auf einen Umweltschaden derart erdrückend, dass die Deponie im April 1985 vom Gemeinderat geschlossen werden musste.
 
Das war einmal. Erinnerungen. Nachdenklich fuhren war an der Manipulations- und Rückbauhalle vorbei – inzwischen gewohnte Landschaftsmöblierungen. 2014 steht vor der Tür.
 
Die geologischen Verhältnisse
Unfassbar war für mich von Anfang an der Umstand gewesen, dass ganz oben, wo einer der Äste des bedeutenden Suhren- und Aaretal-Grundwasserstroms beginnt, eine solche Grossdeponie eingerichtet wurde. Ein hirnverbranntes Projekt, ausgerechnet hier. Von Ablagerungen in Walterswil wusste ich damals noch nichts.
 
Um dies verständlich zu machen, ist es angezeigt, die geologischen Verhältnisse näher zu betrachten: Die Sondermülldeponie Kölliken befindet sich im Bereich der unteren Süsswassermolasse, welche die Born-Engelberg-Antiklinale, diesen südlichsten sichtbaren Ausläufer des Faltenjuras, überlagert (Quelle: „Bericht zur Geologie und Hydrogeologie der Abteilung Umweltschutz des Baudepartements des Kantons Aargau“, 18.12.1986). Das Gebiet nordwestlich der SMDK seinerseits, wo sich – ennet der Kantonsgrenze Aargau/Solothurn – Walterswil SO befindet, wird durch verkarstete Kalke entwässert, wie demselben Bericht zu entnehmen ist. Die Deponien im Engelberg in Walterswil sind in den unteren Teil der erwähnten Antiklinale (durch Faltung erzeugte Aufwölbung) eingezogen. Unsere Privatexkursion führte uns dorthin.
 
Wie hinter dem offensichtlich aufgefüllten, asphaltierten Spielplatz der Mehrzweckhalle Walterswil im Rothacker an der freiliegenden, halbbogigen Kalksteinwand jedermann mit blossem Auge erkennen kann, kam es in den teilweise spröden, aber auch bei den festeren Kalksteinen zu Brüchen, die auf die Kräfte bei der Jurafaltung zurückzuführen sind, wobei aber auch neotektonische Bewegungen ähnliche Erscheinungen hervorriefen. Darin kann Wasser zirkulieren. Dass es dies tut, beweist die Felswand z. B. mit den bemoosten Stellen.
 
Laut dem erwähnten Bericht haben Störungszonen „in der weiteren Umgebung von Kölliken einen Versetzungsbetrag von einigen Dekametern“. Diese Brüche zeichnen sich durch eine besonders hohe Wasserdurchlässigkeit aus, die in Kalkschichten ohnehin gross ist. Auch mürbe Sandsteine (wahrscheinlich ehemalige Flussrinnen) ermöglichen die Wasserzirkulation. Zuunterst bewegt sich das Grundwasser im lockeren Schotter. Dem Wasser stehen also kaum unüberwindliche Grenzen entgegen.
 
Bei den Tongruben der Ziegelei Kölliken, in denen die SMDK angelegt wurde, traten ausnahmsweise mehrere Meter mächtige, lössartige Gehängelehme auf, welche laut dem Geologie-Bericht „eine beschränkte hydraulische Trennung des Grundwasserstroms von Meteorwässern“ bewirken. Das aber war nicht etwa von Vorteil, weil sich kontaminiertes Grundwasser darin ansammelte und ohne grössere Verdünnung nach Norden abfloss.
 
Der ehemalige Leitende Ingenieur Carlo Colombi (von der Colombi Schmutz Dorthe AG, Aarau, CSD) behauptete, einen eigentlichen Grundwasserspiegel gebe es in diesem Gebiet nicht, und der Grubenboden sei „praktisch dicht“ (Quelle: Protokoll 368, Gemeinderat Kölliken, 24.05.1976, Baugesuch Tonwerke Keller AG. Kehrichtdeponie) eine Dichtung, die selbstverständlich bald einmal widerlegt war. Ähnliche Aussagen publizierte Colombi auch in der Zeitschrift „Phoenix International“ 1-1986. Das Aargauische Gewässerschutzamt mit Dr. Erwin Märki und der Gemeinderat Kölliken waren schon Jahre vorher solchen Dichtkünsten gefolgt und sprachen auf der Grundlage einer oberflächlichen Betrachtungsweise von einer „Verschönerung der Landschaft“ nach dem Auffüllen. Die Baubewilligung für die Einrichtung der Deponie wurde am 24.05.1976 erteilt. Man verliess sich auf Experten, wie es so geht.
 
Das Grundwasser aus dem Bereich Safenwil/Kölliken an der Kantonsgrenze AG/SO – Walterswil befindet sich in kurzer Distanz westnordwestlich von Safenwil – zweigt gegen Osten ins Suhrental ab, wobei man von der Kölliker Rinne spricht, die aus dem jüngsten Zeitabschnitt der Erdgeschichte (Quartär) stammt und heterogen (also uneinheitlich) aufgebaut ist. Im Grossratsprotokoll vom 14.12.1982 steht auf Seite 1103, „das Trinkwasser, das wir als Quellwasser fassen, entspringt 200 bis 300 Meter von der Grube (Kölliken) entfernt.“
 
Die Reise der Gifte
Im Allgemeinen wandern die verschiedenen Wasserinhaltsstoffe mit unterschiedlichen Migrationsgeschwindigkeiten – dieser Begriff ist in der Geologie gebräuchlich. Besonders schnell unterwegs sind Chloride, die nur beschränkt als Schadstoffe zu bezeichnen sind und natürlicherweise vorkommen (im Gegensatz zu Bromiden, die aus der SMDK jahrelang ausliefen und auf menschliche Einflüsse hinwiesen). Sehr viel langsamer bewegen sich organische Schadstoffe wie Chlorierte Kohlenwasserstoffe (CKW) und giftige Schwermetalle, woraus sich ein sogenannter Chromatografieeffekt (Aufgliederung eines Stoffgemischs) ergibt.
 
Die Expertenkommission (EK), die nach dem Einlagerungsstopp in Kölliken im Frühling 1985 eingesetzt wurde, schrieb im April 1986, die Auswaschzeit für organischen Kohlenstoff könnte Jahrhunderte betragen (angegeben wurden 600 Jahre, für Zink 2000 Jahre). Die EK rechnete mit mittel- und langfristigen Gefährdungen während Jahrzehnten bis Jahrhunderten. Ein gewisser Aufstau von Wasser im Deponiekörper wurde nun endlich nicht mehr ausgeschlossen; irgendwann würde kontaminiertes Wasser überfliessen, die Deponiehülle verlassen und die Umwelt gefährden – im vorliegenden Fall eben das Trinkwasser.
 
In der SMDK lagerten u. a. etwa 1800 Tonnen DNAPLs (Dense Non Aqueous Phase Liquid), die schwerer als Wasser, sehr mobil und schwierig nachweisbar sind. Ab April 1985 wurde das in einer Kläranlage für den Hausgebrauch nicht zu bewältigende Schmutzwasser nach Kaisten/Sisseln abgeführt, wobei die Expertenkommission in diesem Zusammenhang auch den Rhein erwähnte ... Die ARA Kölliken war tatsächlich ausserstande, beispielsweise organische Frachten unschädlich zu machen. Das ist beim momentanen Ausbaustandard, der auf relativ harmlose Abgänge aus den Wohnungen ausgerichtet ist, auch heute noch nicht der Fall. Entsprechende Anfragen an zuständige Stellen von Frau Schütz und mir blieben bisher unbeantwortet, abgesehen von jener an Herrn Beljean, der mir eine Abklärung mit nachfolgendem Bericht versprach.
 
Die SMDK ist inzwischen als „offenes System“ erkannt, was zweifellos auch für die Deponien in Walterswil zutrifft, aus dem Deponiebrühen ins genutzte Grundwasser-Reservoir des Suhrentals abfliessen. Was bisher aus dem Walterswiler Ablagerungsbereich in den Schöpflerbach gelangte, wird nun gefasst und der ARA Kölliken zugeleitet, immer im Vertrauen darauf, sie möge damit fertig werden. Man sehnt sich nach dem Unmöglichen.
 
Die Deponie Kölliken musste/muss entfernt werden. Für das Material begann die Odyssee; die Exhumierung ist im Gange. Viel ausgebuddeltes Material aus dem Milliardengrab kommt in die Verbrennungsanlage Herten in Nordhein-Westfalen. Die Schlacke wird zur Deponie Emscherbruch in Gelsenkirchen weiter transportiert, die Filterstäube nach Herfa-Neurode.
 
Doch was geschieht mit dem in Walterswil abgelagerten Sondermüll? Im Rahmen der geologischen Untersuchungen von 1986 wurde zwar auch die Belastung des Grundwassers aus dem Raum Safenwil abgeklärt, allerdings – auch im wörtlichen Sinne – nur oberflächlich. Es wurde nur durch „eine untiefe Messstelle erfasst“, die aber bereits auf eine „anthropogene (vom Menschen beeinflusste) Belastung“ hinwies.
 
Schon die noch lückenhaften Untersuchungen im Raum Kölliken bis Ende November 1986 wiesen auf „eine deutliche Kontamination (Verschmutzung) des Grundwasser durch Deponiesickerwässer hin“. „Heldin Hertha“ (so der Titel einer ausführlichen Reportage in „natur“ 06-2013), erhielt zunehmend Recht.
 
Die Zwillingsdeponie(n) in Walterswil, die während derselben Jahre der Einlagerung für Gifte noch leichter zugänglich als die SMDK waren, wurden von der Allgemeinheit und der Politik vor lauter „Kölliken“ übersehen. Viele Kenner der Materie wissen, dass Walterswil für Abfälle mit besonders hohen Giftklassen herhalten musste. Der süddeutsche Müllhändler Walter Reinger, ein sehr bedeutender Entsorger von Problemabfällen, die den Namen verdienen, arbeitete unter anderen im Auftrag deutscher Firmen wie Zeppelin in Friedrichshafen, Agfa in Vaihingen und die in Mannheim stationierte US-Armee, die das gesamte Tötungsarsenal von Chemiekampfstoffen bis zu Atombomben noch heute bewirtschaftet, wo auch immer das geschehen mag und deren Abfälle enden mögen.
 
Hinauf zum Chessel
Im Walterswiler Ortszentrum Rothacker weist ein Wegweiser zum Chessel (15 Minuten) und hinauf auf den Engelberg (45 Minuten). Eine asphaltierte Strasse, die auch Gegenverkehr erlaubt, strebt dem Wald zu. Dort (Gebiet Gulachen) baut Walterswil seit Anfang Mai 2013 sein neues, regionales Trinkwasserreservoir mit 800 m3 Fassungsvermögen (anstelle des kleineren, altersschwachen Reservoirs Spörrisholz, 1907 erbaut) für 1.3 Mio. CHF. Das Wasser steht im Notfall auch Däniken und Safenwil zur Verfügung, und bei Bedarf kann das KKW Gösgen als Löschwasserreserve darauf zugreifen.
 
Diese Engelbergstrasse erreicht bald einmal den Chessel (585 Höhenmeter), wo es wie aus Kübeln regnete und Frau Schutz ihren Regenschirm mit den weiss-blauen Segmenten aufspannte. Sie stülpte mir die Kapuze meiner Windjacke über den Kopf, während dem ich mit der Kamera hantierte und wenigstens diese vor dem Niederschlag einigermassen zu schützen versuchte. Ein gelber Wanderwegweiser-Baum zeigt nach zum Engelberg/Olten/Aarburg und gegenüber nach Safenwil, dazwischen nach Aarau und Kölliken. Eine opulente Feuerstelle mit Blockhütte und Tischen sowie Bänken aus zersägten Baumstämmen lädt zum Wurstbraten ein, trockeneres Wetter vorausgesetzt. Wenig weiter oben, beim Oberen Chessel, hatte ein Holzwegweiser Schlagseite erhalten. Frau Schütz liess sich vom Gestrüpp nicht abhalten und richtete ihn wieder auf. Ordnung muss sein.
 
Wir folgten zu Fuss dem Wegweiser „Safenwil“ (nach Südosten), schauten in dem etwas zerzausten Wald mit den zahlreichen jungen Buchen nach Deponiespuren um – vergebens. Man sieht nicht, was sich unter der Oberfläche befindet, wenn man kein Aushub- oder Bohrgerät bei sich hat. Das Geotechnische Büro Dr. von Moos AG in Zürich stellte 2011 als Folge einer Deponiesaft-Untersuchung fest, dass die CKW (Chlorkohlenwasserstoffe, auch Halogenkohlenwasserstoffe) und die Zinkbelastung in Walterswil nicht von der Deponie Rothacker, „sondern von belasteten Standorten im Gebiet Engelberg und von der Deponie Chessel“ stamme. Es gibt dort oben somit erwiesenermassen auch andere belastete Standorte. Ob man das bei der Trinkwasserfassung Walterswil genügend berücksichtigt hat, entgeht meiner Kenntnis.
 
sind mehrere belastete Standorte eingezeichnet. Zu diesem im Internet abrufbaren Kartenausschnitt steht als Begleittext: „In den letzten Jahren sind praktisch alle belasteten Standorte im Kanton Solothurn erhoben und gemäss ihrer Lage und Stoffgefährlichkeit eingestuft worden. In den folgenden Jahren sollen alle untersuchungsbedürftigen Standorte überprüft und definitiv beurteilt werden. Nötigenfalls veranlassen wir gezielte Schutzmassnahmen (Sanierung, Überwachung).“
 
Im Aargau gibt es etwa 1200 Altlasten (alte Abfallgruben), wovon etwa 150 grundwassergefährdend sind. Nach der Altlasten-Verordnung (AltlV) sind die Kantone verpflichtet, solche Kataster zu erstellen, zumal es in der Schweiz etwa 50 000 Verdachtsfälle gibt; die Zahlen sind grobe Schätzungen. Das Ziel ist, unsere Biosphäre wieder einigermassen rein zu bekommen.
 
Bei Engelberg
Wir spazierten auf der Engelbergstrasse zum Chessel zurück. Der Regen, der bei Reinigungsarbeiten mitwirkt, hielt an, als wir auf der gleichen Asphaltstrasse dem Weiler Engelberg (gehört zur Gemeinde Dulliken SO) zusteuerten (die Strasse erreicht auf die nördlichen Hügelseite das Dorf Dulliken).
 
Der Weiler mit dem Namen von jenen Wesen, die als Vermittler zwischen Gottheiten und Menschen dienen, besteht aus etwa 20 kleineren und grösseren Bauten unterhalb eines raketenähnlichen, himmelwärts ausgerichteten Sendeturms und macht mit seinen Ziegelsatteldächern einen ordentlichen Eindruck. Er liegt verträumt in einer grösseren Waldlichtung, die auch Platz für die Landwirtschaft lässt. Die Passhöhe (670 Höhenmeter) befindet sich knapp 200 m höher als Walterswil.
 
Oberhalb des Weilers verliessen wir die Strasse nach links (Westen), wo Frau Schütz vermutete, dass hier oben einst Abfälle abgelagert worden sein könnten, ohne aber sicher zu sein. Ein Wald-Jungwuchs, der teilweise eher einer Strauchansammlung gleicht, umfasst immerhin einige vielleicht etwa 20 Jahre alte Bäume, von denen man nicht weiss, was ihre Wurzeln, die tiefere Schichten erkunden, allenfalls zu erzählen hätten.
 
In unseren Breitengraden wächst immer und überall Gras darüber – und im Rahmen der Sukzession (des Nachrückens) entsteht dann Wald.
 
So lange keine Lebensgrundlagen beschädigt werden, spielt der Untergrund keine Rolle. Würde man meinen. Allerdings ist die Erdkruste, die nun auch wegen der vorgesehenen Erdgas-Förderung im Bodenseeraum mit dem Durchbohren wasserführender Schichten und Einpressen von Chemikalien und Sand (Fracking), der Geothermie-Bohrungen bei St. Gallen oder aber wegen der vorgesehenen Einlagerung von radioaktiven Stoffen aus Kernkraftwerken und Spitälern usf. allerhand zu ertragen hat, reichlich strapaziert. Die Sensibilisierung, Mobilisierung und Skandalisierung der Massen rund um den Atommüll ist gross, bei Chemieabfällen ist sie vernachlässigt. Die Basler agitierten seinerzeit gegen das KKW-Kaiseraugst-Projekt, kümmerten sich keinen Deut um die sich breitmachenden Chemiegifte. Meine damaligen publizistischen Hinweise auf das Ablenkungsmanöver fielen auf unfruchtbaren Boden.
 
Zurück zum Rothacker
Frau Schütz und ich traten den Rückzug an. In Walterswil-Rothacker grüssten wir vom Waldrand aus noch die riesige Grube, wo der Chauffeur eines grossen Lastwagens gerade ein Fuder von Schlacke aus der Kehrichtverbrennung, die mit grösseren Eisenstücken durchsetzt war, deponierte. Weiter unten, wo die Zufahrtsstrasse den begrünten Deponiekörper erreicht, stand bis vor kurzem die Tafel: „Wir sind umgezogen. Neuer Standort ab 26.11.2012: Obermatten 12, 5742 Kölliken.“
 
Diese desinformierende Orientierungstafel, über die ich im Blog vom 01.10.2013 berichtet habe, ist jetzt verschwunden. Man weiss einfach nicht so recht, was sich in der vermüllten Unter- und Oberwelt genau abspielt, stösst auf immer neue Rätsel.
 
Müssen Frau Schütz und ich vielleicht aus unseren AHV-Renten einen Bulldozer und schweres Bohrgerät anschaffen?
 
Die Bewilligungen fürs Lochen wären wohl weniger schnell zu bekommen als damals für die Sondermülldeponien.
 
Hinweis auf Heilbronn D 
Eine der grössten Gilfmülldeponien Europas befindet sich in den Salzbergwerken von Heilbronn:
 
Hinweis auf die bisherigen Blogs über die Deponie Rothacker Walterswil SO
 
Leserreaktion mit Bezug zur Deponie Walterswil
 
Hinweis auf die Beschreibung der SMDK im Textatelier.com
 
Hinweis auf Blogs zur Sondermülldeponie Kölliken
 
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