Textatelier
BLOG vom: 20.01.2014

Drang zum einfachen Leben im Strudel des Komplexen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Wer beklagt sich nicht, unter wachsendem Zeitruck arbeiten und mehr und mehr Arbeitsstunden leisten zu müssen, die selbst die Freizeit übers Wochenende beschneiden?
 
Diese Frage stellte sich auch Dr. Günther Bomberger, nachdem er eine vom SRI (Stanford Research Institute) publizierte Studie, betitelt „Voluntary Simplicity“ gelesen hatte. Bomberger, ein gebürtiger Frankfurter, ist 36 Jahre alt geworden und arbeitet als Prokurist in einer amerikanischen Investmentbank in Zürich. Er und seine Mitarbeiter verfassen Studien, die exklusive für Bankkunden bestimmt sind: Branchenberichte, Konjunkturprognosen, das Gewoge der Wechselkurse, Länderprofile und ähnliches mehr, die laufend aufdatiert werden müssen. Dabei bleibt Performance das vorherrschende Stichwort. Die Resultate wurden regelmässig im Investor Club der Bank mit grossem Tralala und vielen Tabellen und Grafiken präsentiert. Rosige Zukunftsbilder wurden dabei gemalt. Die Wirtschaftskrise wird als kurzfristiges Intermezzo abgetan.
 
Günther Bomberger beschloss, das Pro und Kontra des einfachen Lebens mit der „Decision Analysis“ zu durchleuchten. Wollte er das einfache Leben verwirklichen, müsste er eine massive Einkommenseinbusse in Kauf nehmen und seine Ansprüche drosseln, folgerte er. Er war noch immer ledig. Das könnte sich ändern. Der Unterhalt einer Familie ist kostspielig … Aber Günther wollte kein gut verdienender Lohnsklave bleiben.
 
Kürzlich hatte er eine geräumige Wohnung in einem Altstadthause bezogen. Im gleichen Haus lebte ein älteres Ehepaar. Ihr Mann stammt aus Oberitalien und ist mit einer Zürcherin verheiratet. Das Paar lebte bescheiden – und voller Lebensfreude. „Was ist ihr Geheimnis?“ grübelte Günther.
 
Eines Abends hob sie ihren Einkaufskorb vom Velo. Er hielt ihr die Türe offen und anerbot sich, ihren Korb hinauf zu tragen. Ohne Drum und Dran lud sie ihn zum Abendessen in die Wohnung ein.
 
„Bruno, mein Mann, und ich würden uns freuen ... kommen Sie herein“, lud sie ihn in die Wohnung. Bruno gesellte sich zu ihnen in der heimelig eingerichteten Wohnküche. Anita deckte den Tisch und stellte die Bratpfanne auf den altmodischen Kochherd.
 
„Heute gibt es Geschnetzeltes mit Rösti und Salat“, verhiess Anita. Bruno entkorkte eine Flasche Wein aus der Region Abruzzen, „zwar etwas herb, doch mit Charakter“, erklärte er. Im Handkehrum war das Essen zubereitet und das Gespräch kam zwanglos in Gang. Bruno ist ein Möbelschreiner und hat seine Werkstatt gleich um die Ecke.
 
Eine andere Welt tat sich Günther auf, eine solide und fest verankerte Welt. Er fühlte sich behaglich und entspannt und bewunderte die bunten Zeichnungen ihrer Enkelin, ringsum in der Küche in Holzrahmen verteilt. Das Thema Holz wurde aufgegriffen, und Bruno beantwortete Günthers Fragen mit sichtlichem Vergnügen, wobei seine breite Hand liebevoll über das fein gehobelte Tannenholz des Küchentisches strich.
 
Die Käseplatte auf einem Hartholzteller wurde herumgereicht. Jäh erhob sich Günther und entschuldigte sich mit einem gequälten Ausdruck und gestand, dass er eine Studie für die Bank noch heute beenden müsse ... und bedankte sich für die Gastfreundschaft. Sie wisse aus ihrem Bekanntenkreis, schickte Anita nach, wie heute Leute fortzu vom Zeitdruck belastet werden. „Sie sind jederzeit willkommen, meine bescheidene Werkstatt zu besuchen“, sagte Bruno noch, ehe Günther die Wohnung verliess.
 
Weiterhin erfüllte Günther gewissenhaft seine Pflicht; aber sein heimlich gehegter Wunsch, sich vom Frondienst zu lösen, trieb Wurzeln. So oft er konnte, besuchte er Bruno in seiner Werkstatt und lernte nach und nach das Handwerk des Möbelschreiners, hobelte und glättete die verschiedenen Holzarten wie erforderlich, bearbeitete Intarsien. Bruno freute sich an den Fortschritten seines Schülers. Die Freundschaft zwischen ihm und dem Ehepaar vertiefte sich. Anita führte die Buchhaltung des Möbelateliers ihres Mannes, und Günther richtete ihr ein PC-Programm ein, das ihr viel Zeit ersparte.
 
Ein Jahr war verstrichen. An einem Sonntag besuchte Günther eine Ausstellung über das Ottomanische Reich und seine Artefakte. Er hatte beschlossen, seinen Horizont über seine berufliche Fachkompetenz hinweg zu erweitern.
 
In seinem Elternhaus war alles auf wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet gewesen. Der Spielraum für andere Interessensbereiche war folglich eingeengt. Als gefügiger Sohn fügte er sich dem Diktat seines Vaters und genoss die Privilegien seiner Klasse. Erst jetzt wurde er sich seiner Bildungslücken gewahr. Seine gute Auffassungsgabe ermöglichte ihm, diesen Rückstand teilweise aufzuholen. Das Ottomanische Reich wurde in westlichen Ländern voreilig als Diktatur abgetan und damit anderweitige Ansichten abgewürgt. Er schloss sich auf dieser Ausstellung einer Gruppe an, von einer türkischen Historikerin, Ayla, begleitet.
 
Nach dem Rundgang kam er mit Ayla kurz ins Gespräch. Sie gefiel ihm ausserordentlich; aber er liess sich das nicht anmerken, diskret wie er aus Gewohnheit war. Im Google war ihr Name mit „oak tree“ (Eiche) übersetzt. So hatte er es mit einem Holz ganz anderer Art zu tun! Über die Leitung dieser Ausstellung erfuhr er, dass Ayla eine Vorlesung zum ottomanischen Thema abhalten werde. Spontan sicherte er sich eine Eintrittskarte und erschien an ihrem Vorlesetag. Nur knapp 2 Dutzend Leute erschienen zu diesem Anlass. „Wer Fragen hat, möge sich am Ende meines Vortrags melden“, forderte sie die Zuhörer in ihrer Einleitung auf. Und Fragen hatte er zum Thema – und, wer weiss, sogar darüber hinweg. Ihm schien, dass sie seine Anwesenheit bemerkt hatte.
 
Auf seine Frage: „Warum wird die Geschichte des Ottomanischen Reichs im Westen vernachlässigt und bestenfalls nur oberflächlich gestreift?“ verwies sie ihn auf die lange Geschichte der Eroberungs- und Befreiungskriege zwischen West und Ost und versprach, ihm nach der Vorlesung die Titel diesbezüglicher Fachliteratur zu nennen.
 
Ayla bezirzte ihn. Ihr Anblick betörte ihn, und ihr vertieftes Wissen über das Ottomanische Imperium beeindruckte ihn. Ausweichend beantwortete er ihre Frage, weshalb ihn die Ottomanen fesselten: „Ich arbeite für eine Bank und bin mit Arbeit überhäuft“ gestand er. „So versuche ich, in der Geschichte einen Ausgleich zu finden und gewisse Wissenslücken zu stopfen. Ob das längerfristig mein Ausweg sein kann, bleibt fraglich.“
 
„Ich verstehe“, nickte sie, „ich selbst musste umsatteln und wechselte meinen 1. Beruf als Übersetzerin und studierte Geschichte in Istanbul. Als Austauschstudentin wurde mir ein halbjähriger Studienaufenthalt in Zürich gewährt. Nach der Promotion hoffe ich, dass ich einen Posten in der Universität bekomme.“
 
„Wie lange bleiben Sie in noch der Schweiz?“ fragte er sie, um Gleichmut bemüht.
 
„Nur noch einen Monat“, antwortete sie und notierte einige einschlägige Buchtitel auf einem Zettel.
 
„Ich hätte noch eine Frage, eigentlich eine Bitte“, rückte er mit der Sprache heraus und verhedderte sich arg. Ayla zog überrascht die Brauen hoch, zögerte und willigte schliesslich ein, ihn zu treffen.
 
„Warum nicht schon jetzt?“ prellte er vor, „der Tag ist wie geschaffen für einen Bummel durch die Stadt und am Seeufer entlang.“
 
„Aber wir haben einander schon getroffen“, schmunzelte sie. So begann ihre Bekanntschaft.
 
Günther war wie neugeboren, was selbst seinen Mitarbeitern in der Bank auffiel. Er setzte sich erfolgreich für verbesserte Arbeitsbedingungen ein. Die Zahl der Überstunden wurde reduziert, der Terminplan neu gestaltet und die Kompetenzen besser aufeinander abgestimmt. Das erleichterte die Zusammenarbeit. Dabei wurde Günther merklich mitteilsamer. Doch sein Drang zum einfachen Leben erlosch nicht, und er schmiedete insgeheim Zukunftspläne. Er beantragte ein „Sabbatical“, das er mit Ayla in der Türkei verbrachte, wie sich ihre Freundschaft entwickelt und gefestigt hatte.
 
Ein neuer Lebensabschnitt hatte für ihn begonnen. Dank Ayla wurde er mit der türkischen Sprache vertraut und, mehr noch, mit der Lebensart, losgelöst vom blinden Materialismus. Er kündigte seine Stelle. Seine Ersparnisse reichten aus, um sein Studium der Archäologie in der Türkei zu finanzieren. Nach erfolgreichem Studienabschluss wurde ihm ein Posten als Archäologe in der gleichen Universität angeboten, in der Ayla als Professorin in der Landesgeschichte unterrichtete. Die Heirat des Paares liess nicht lange auf sich warten. Und er gewann erst noch ausreichend Zeit, um antike Möbel fachgerecht zu restaurieren! Seine Freundschaft mit Anita und Bruno blieb voll und ganz erhalten.
 
Das liest sich alles wie ein Märchen. Aber auch Märchen lassen sich verwirklichen!
 
 
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