Textatelier
BLOG vom: 05.02.2014

Kehrichtsack-Schlepper und Sondermüll-Schlepperbanden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Viele Ehen scheinen am Streit, wer im Hinblick auf die periodische Kehrichtabfuhr den Abfallsack vors Haus zu tragen hat, annähernd oder ganz zu zerbrechen. In meiner Familie gab es während über 50 Jahren nie ein Wort der Diskussion zu dieser nicht eben weltbewegenden Frage: Die Abfallbeseitigung war seit je meine persönliche Angelegenheit. Die klare Aufgabenteilung, die nicht einmal abgesprochen werden musste, beruht auf dem Umstand, dass ich mich auch als Journalist mit bescheidener Vorbildung in Chemie immer wieder des Abfallwesens annehmen musste, sind doch die Beziehungen zwischen den beiden Fachgebieten sehr eng. Mit zunehmender Industrialisierung erhielten die Abfälle – und insbesondere die besonders giftigen (Sondermüll) – eine wachsende Bedeutung. Die Müllberge wuchsen, und sie wachsen noch immer.
 
Das Abfallwesen war einst bedeutungslos – damals, als noch ausschliesslich mit Naturmaterialien gearbeitet wurde. Und, wie man weiss, kennt die Natur keinen Abfall; alles verwandelt sich zu neuen Lebensgrundlagen nach dem Vorbild der Verrottung, dem Kompostieren. Als sich die Industrie zunehmend damit beschäftigte, naturfremde Materialien wie Kunststoffe und Chemikalien aller Art zu synthetisieren, mit denen die belebte Umwelt nicht nur nichts anfangen kann, sondern diese zerstören sogar Naturkreisläufe, erhielt das Problem eine neue Dimension. Sie töten ökologisch Eingespieltes ab. Fische leiden und sterben in den Weltmeeren an zerfallenden Kunststoffteilchen, um nur ein noch wenig beachtetes Beispiel zu nennen, das doch aufsehenerregend genug sein müsste. Bauern müssen die liederliche Gesellschaft aus Rücksicht auf ihre Rinder vor Plastikabfall auf den Weiden warnen. Das Littering, um dem amerikanischen Fachausdruck Genüge zu tun (Abfälle im Öffentlichen Raum wegwerfen oder liegen lassen), macht dieselben Fortschritte wie der Bildungszerfall.
 
Auf dem Festland nahmen in der Folge wilde Deponien überhand, bei denen kaum zwischen wenig bedenklichem und hochtoxischem Abfall unterschieden wurde. Um den Lebensraum nicht zu vermüllen, wurde der Kehricht allmählich getrennt, der giftigste Teil davon in Sondermülldeponien abgelagert, was oft in dilettantischer Art geschah. Der Rest wurde in Kehrichtverbrennungsanlagen in Energie und Schlacken umgewandelt, die anfänglich, d. h. bevor eine leistungsfähige Filtertechnik zur Verfügung stand, selber zu Dreckschleudern wurden. Vieh, das mit giftiger Asche überzogenes Gras essen musste, hatte keine Überlebenschance (so in Buchs AG bei Aarau). Betroffene Bauern wurden ruiniert oder kamen nur nach jahrelangen Kämpfen, wenn überhaupt, zu ihrem Recht und zu etwas Schadenersatz.
 
Die Schweiz mit ihrem Sauberkeitsruf hat inzwischen im Hinblick auf einen verantwortungsvollen Umgang mit Giftabfällen vieles unternommen, und im aargauischen Kölliken wird die Sondermülldeponie (SMDK) mit Aufwendungen um 1 Milliarde CHF portionenweise aus dem Suhren- und Aaretal-Grundwassergebiet entfernt; das geht sogar schneller als erwartet. Sie wurde zu einem Vorzeigeobjekt, das Impulse gibt, wie man Sünden aus der Vergangenheit aus der Welt schaffen kann ... eine Art Ablass, aber kein Ablassen ins Grundwasser.
 
Zustände bei den Nachbarn im Süden und Norden
Ein gutes Beispiel kann man brauchen; denn in vielen Ländern, vornehmlich in Italien, nutzt die Mafia die Giftabfälle für gute Geschäfte mit kriminellem Einschlag: Skrupellose Firmen übernehmen diese bedrohlichen Substanzen, und sie schaffen sich diese sie in Nacht-und-Nebel-Aktionen vom Hals. Damit werden auf elegante Art Millionen ergaunert.
 
Die anfallenden Müllmengen sind gigantisch: Laut Recherchen von Eurispes, dem italienischen Institut für politische, wirtschaftliche und soziale Recherchen, wurden täglich 4500–5000 Tonnen Müll aus der Stadt Rom, Fiumicino, Ciampino und der Vatikanstadt auf 240 Hektar in der Müllanlage Malagrotta „entsorgt“, bis sie wegen Überlastung geschlossen werden musste – laut http://netzfrauen.org.
 
Der „Padrone“ Manilio Cerroni, der Malagrotta-Eigentümer ist und welcher die römische Abfallwirtschaft und die gesamten Region Latium kontrolliert, machte einen jährlichen Umsatz von zirka einer Milliarde Euro. Er kann sich nicht beklagen und hat die Mittel, die Flucht in sauberere Gebiete anzutreten.
 
Immer wieder macht insbesondere auch Neapel Schlagzeilen, wenn es im eigenen Müll fast erstickt. Viele Verbrennungsanlagen funktionieren in Italien nicht, und geeignete Deponien fehlen. Die Gifte, welche die Menschen und alle anderen Lebewesen krank machen und sich teilweise als Rauchschwaden aus der Terra dei Fuochi (den brennenden, glimmenden Böden) niederschlagen, sind Bestandteile des kaputten Ökosystems.
 
Auch in Deutschland verdienen viele Giftschieber üppig Geld mit dem herangekarrten Müll (etwa Chemieabfällen), wie eine ZDF-Sendung am 03.12.2013 kundtat: http://www.zdf.de/Frontal-21/Giftig-und-gefährlich-30924784.html
 
Das deutsche Bundeskriminalamt warnte: Viele Giftmüllgeschäfte wickelt die Organisierte Kriminalität ab. Es geht um Umweltstraftaten, Korruption, Geldwäsche – und um kriminelle Clans mit besten Beziehungen zur Mafia. Ein deutsch-italienisches Netzwerk soll im ganzen Bundesgebiet tätig sein; Müll-Laster aus Italien treffen täglich in Deutschland ein. Oft werden die hochtoxischen Abfälle mit harmlosem Müll vermischt, also verdünnt und auf dafür ungeeigneten Deponien abgelagert. Der Hessische Rundfunk ist zurzeit dabei, für den renommierten TV-Sender arte eine Dokumentation mit Berücksichtigung von Kölliken AG/Schweiz auszuarbeiten.
 
Überall sind Leute angestellt, die nicht in der Lage sind, die angelieferten, oft umdeklarierten Abfälle zu begutachten, und so wird es möglich, viel Geld mit wenig Aufwand zu verdienen.
 
Erinnerungen ans obere Suhrental
Es braucht in der Regel jahrelange Prozesse, bis die Einsicht gewachsen ist, die Kontrollbehörden erwacht und Verbesserungen herbeigeführt werden. Frau Hertha Schütz-Vogel, die sich in den 1970er- und 1980er-Jahren intensiv um die Aufklärung der Geschehnisse um die Sondermülldeponie Kölliken (SMDK) bemühte (sie wohnte damals in Kölliken, heute in Unterentfelden bei Aarau), schickte mir dieser Tage die Fotokopie eines Artikels aus dem „Aargauer Tagblatt“ vom 12.04.1985 zu, den ich selber verfasst habe (Titel: „Die Kläranlage Kölliken genügt ihren Anforderungen nicht“). Ich schrieb darin, „dass der Köllikerbach und die nachfolgende Uerke in den ohnehin schwer angeschlagenen Grundwasserstrom des Suhrentals infiltieren können – zusätzlich zu all den Auswirkungen einer intensiv düngenden Landwirtschaft, die man durch eine Preistiefhaltepolitik das Forcieren des Pflanzenwachstums gelehrt hat. Die Schmutzfrachten aus der Luft kommen noch dazu.“
 
Frau Schütz kommentierte diese bald 30 Jahre alten Ausführungen so: „Glauben Sie, heute sei es besser?“ Die Antwort ist in dieser Frage enthalten. Ein Exempel dazu: Bisher blieb weitgehend unberücksichtigt, dass auch toxische Deponiesäfte aus den mit Sondermüll versehenen Deponien im oberliegenden Walterswil (Kanton Solothurn) im Rothacker, Chessel und Engelberg in die nur für häusliche Abwasser eingerichtete, erweiterte Kläranlage Kölliken gelangen, die nun zum Teil über das Sammelrohr hinter dem neu gestalteten Schöpflerbach zu jener Anlage geleitet werden. Die Messungen geben laut den Behörden keinen Anlass zur Sorge; das Beschwichtigen hat Tradition.
 
Der Aargauer Regierungsrat Stephan Attiger schrieb am 19.12.2013 auf eine entsprechende Anfrage an Hertha Schütz-Vogel beruhigende Worte: „... Zudem wird die Reinigungsleistung der ARA Kölliken durch die Abteilung Umwelt des Kantons Aargau überwacht. Die Resultate werden jeweils im Jahresbericht zusammengefasst. Wir können Ihnen bestätigen, dass die Bedingungen für die Einleitung in die Uerke eingehalten werden.“
 
Solange ich keine Gegenbeweise vorlegen kann, habe ich das ebenso zu glauben wie Herr Attiger. Doch die Frage drängt sich auch, welche Auswahl an Parametern (im Sinne von Erkennungsmerkmalen) zur Beurteilung der Abwassergüte herangezogen und analysiert wird. Vielleicht müssten die Aargauer Behörden doch einmal genauer hinschauen, um zu erkennen, was alles ihnen aus den Solothurner Anhöhen angeliefert wird.
 
Schon 1985 wurde getont, die Kläranlage Kölliken funktioniere bestens. Im bereits zitierten AT-Bericht erwähnte ich den damaligen Klärwärter Urs Zehnder, der sagte, die Kläranlage gewöhne sich an alles. Das wären ja schon fast menschliche Züge.
 
Alter Verdacht
Hinter die Waltenswiler Deponiefragen hat sich bis jetzt noch niemand herangewagt. Einen Verdacht äusserte ich bereits im AT-Bericht vom 27.07.1985 („Kanalisation lief über: In Kölliken starben Fische“): „Es müssen grosse Chemikalienmengen aus der Regenentlastung der Kanalisation in den Bach geflossen sein. Ob sie aus dem Raum Safenwil (gegenüber schliesst sich der Hügel mit Walterswil an, TxA) oder aber aus der SMDK stammen, kann nicht gesagt werden. Jedenfalls hatte das Fischsterben seinen Anfang oberhalb des Dorfs Kölliken.“
 
Der „Bericht zur Geologie und Hydrogeologie der Sondermülldeponie Kölliken“ vom 18.12.1986 liess Verunreinigungen aus dem Raum Safenwil (und damit aus der Gemeinde Walterswil) ebenfalls durchblicken, auch wenn die vorangegangenen Abklärungen nur rudimentär gewesen waren: „Einen hydrochemischen Aspekt stellt die Frage nach der Grundbelastung des Grundwassers aus dem Raume Safenwil dar. Die Belastung des Grundwassers durch Schadstoffe aus dem erwähnten Gebiet wird zur Zeit nur durch eine untiefe Messstelle erfasst. Da vermutlich auch dieses Grundwasser eine anthropogene Belastung aufweist, ist es wichtig, zu wissen, welche Zusammensetzung dieses Grundwasser besitzt. Dadurch wird es möglich sein, den effektiven Einfluss der SMDK auf das Grundwasser in der Köllikerrinne besser zu beurteilen.“
 
An Indizien, dass es neben der SMDK noch andere Vergiftungsquellen gibt, bestand und besteht kein Mangel. Nur so richtig hinschauen mochte während all der ins Land gegangenen Jahrzehnte halt niemand; Abklärungen blieben oberflächlich in jeder Bedeutung des Worts. Es wird wahrscheinlich noch viel Abwasser den Köllikerbach, die Uerke, die Suhre, die Aare und den Rhein hinunter fliessen, bis der Wert von reinem Trinkwasser erkannt sein wird.
 
Selbstverständlich liegt es mir fern, italienische Verhältnisse an die Wand zu malen. So weit ins entsorgerische Mittelalter können wir wohl nicht mehr zurückfallen. Umso mehr wäre es unsere Aufgabe, an die Zukunft zu denken, statt über den kaputten Untergrund Gras wachsen zu lassen, der dadurch nicht sauberer wird.
*
Inzwischen trage ich weiterhin die Abfallsäcke dorthin, wo sie von den braven Müllsammlern abgeholt und in die KVA Buchs-Aarau geführt werden. Dort ist auch Rauch Dampf geworden.
 
 
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