Textatelier
BLOG vom: 23.08.2014

Gedanken über die Gelassenheit: Gleichmut, innere Ruhe

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
Ich versuche mich in der Lebensmaxime „Gelassenheit“. Laut Wikipedia bedeutet der Begriff:
 
„Gelassenheit, Gleichmut, innere Ruhe oder Gemütsruhe ist eine innere Einstellung, die Fähigkeit, vor allem in schwierigen Situationen die Fassung oder eine unvoreingenommene Haltung zu bewahren. Sie ist das Gegenteil von Unruhe, Aufgeregtheit, Nervosität und Stress.“
 
Ich war immer davon ausgegangen, dass Gelassenheit bewahren etwas mit Reife und Erfahrung zu tun hat, und dass ältere Menschen diese Einstellung im Laufe ihres Lebens quasi als Begleiterscheinung mitbekommen. Manche Freunde und Bekannte zeigen aber in ihren Verhaltensweisen, dass meine Auffassung möglicherweise nicht stimmt. Bei ihnen erweist sich schon als Autofahrer im Strassenverkehr, dass diese Fähigkeit nur wenig oder nicht vorhanden sein kann. Ein Grossteil der Mitteilnehmer im Verkehr verhält sich in ihren Augen falsch und wütende Kommentare, Beschimpfungen über vermeintlich falsche Fahrweisen gehören zu jeder Fahrt. Ebenso verhält es sich, so ihre Darstellungen, bei Kollegen am Arbeitsplatz. Allesamt sind sie egoistisch, karrieresüchtig, einschleimend oder unkooperativ, überhaupt unfähig und fehl am Platze. Eigene Fehler sind entweder nicht vorhanden oder werden mit der Bemerkung: „So bin ich eben, ich kann nicht anders!“ abgetan. Dass ich das alles ganz locker sehe, den Mitmenschen Fehler zugestehe, wird mit dem Kommentar: „Dir ist scheinbar alles egal!“ abgetan. Beliebt ist auch die Warnung: „Wenn du alle deine Emotionen herunterschluckst, holst du dir bestimmt eines Tages einen Herzinfarkt oder ein Magengeschwür!“ Und wenn ich zu verstehen gebe, dass ich keinen Grund erkenne, mich über die Massen aufzuregen, folglich auch nichts „herunterschlucke“, ernte ich nur Unglauben.
 
Vor ein paar Tagen ist mir eine Schrift des Philosophen Martin Heidegger in die Hände gefallen, die den Titel „Gelassenheit“ trägt. Das Büchlein ist aus dem Jahr 1959 und beinhaltet die Niederschrift einer Rede, die Heidegger bei einer Feier zum 175. Geburtstag des Komponisten Conradin Kreutzer am 30. Oktober 1955 in Messkirch gehalten hat, und das Kapitel „Zur Erörterung der Gelassenheit“ mit einem fiktiven Gespräch zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Lehrer aus dem Jahre 1944/45. Ich werde später darauf zurückkommen.
 
Das 2014 erschienene Buch, „Gelassenheit – und andere Versuche zur negativen Ethik“ der sich als Herausgeber bezeichnenden Henning Ottmann, Stefano Saracino und Peter Seyferth führt mit der Kapitelüberschrift „Let it be“ von Henning Ottmann ins Thema ein. Der Titel des berühmten Schlagers von Paul McCarthy wird auf unterschiedliche Weise interpretiert. Ottmann sympathisiert mit der Übersetzung: „Lass es geschehen!“ und „So sei es!“ und führt aus: „...ein Wort auch über eine Tugend, die mit ihnen eng verbunden ist: die Gelassenheit.“ Er geht auf die Stoiker ein, bei denen der Rückzug zu sich selbst auch bei Folter und Leid etwas Starres, Rigides an sich habe und die den Autor nicht überzeugten. Schon eher sei es der christliche Glaube, das Schicksal in Gottes Hand zu legen, im Sinne von „Wer nur den lieben Gott lässt walten...“ und ergänzt: „Aber manchmal wächst die Wahrheit auch im Alltäglichen und Unscheinbaren (des Popsongs), und mancher Künstler erhält die Gabe, mehr zu sagen, als er weiss.“
 
Danach geht Ottmann auf die Philosophen Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger ein. Schopenhauer als der Philosoph „des Pessimismus“, also „der Allverneinung“, ist in den Augen von Ottmann keine Alternative. Aber zusammen mit Heidegger zeigt die Philosophie in der Diskussion um das Nicht-Handeln, das Nicht-Tun und der Passivität auf, worum es in dem Buch gehen soll, nämliche um die negative Ethik, „deren wünschenswertes Resultat die Gelassenheit ist.“
 
Das Thema ist also nicht, was wir tun sollten, etwa die Dinge geschehen lassen, sondern was wir eben nicht tun, also lassen sollten. Das ist hochaktuell durch die Errungenschaften der Technik, der Medizin usw. Die Dinge „in Gottes Hand zu legen“ ist wohl im Sinne der Mahnung zu verstehen, dass der Mensch nicht alles tun darf, wozu er fähig ist, er dürfe sich nicht anmassen, „Gott zu spielen“. Das Buch von Ottmann et al. versteht sich, so ist aus dem 1. Kapitel zu ersehen, als Mahnung gegen den „Machbarkeitswahn des Menschen“.
 
„Gelassenheit“ ist ein nominalisiertes Verb, kommt also von „lassen“. Lassen wir Heidegger zu Wort kommen:
 
F(orscher): „Sie reden unablässig von einem Lassen, so dass der Eindruck entsteht, es sei eine Art von Passivität gemeint. Gleichwohl glaube ich zu wissen, dass es sich keineswegs um ein kraftloses Gleiten- und Treibenlassen der Dinge handelt.“
 
G(elehrter): „Vielleicht verbirgt sich in der Gelassenheit ein höheres Tun als in allen Taten der Welt und in den Machenschaften der Menschentümer...“
 
L(ehrer): „... welches höhere Tun gleichwohl keine Aktivität ist.“
 
F: „Demnach liegt die Gelassenheit, falls man hier von einem Liegen sprechen darf, ausserhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität...“
 
G: „... weil die Gelassenheit nicht in den Bereich des Willens gehört.“
 
F: „Der Übergang aus dem Wollen in die Gelassenheit scheint mir das Schwierige zu sein.“
 
Heidegger spricht sich klar gegen die christliche Auffassung aus, wenn er ausführen lässt:
 
G: „Gewiss, aber die von uns genannte Gelassenheit meint doch offenbar nicht das Abwerfen der sündigen Eigensucht und das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens.“
 
Später kommt F zu Wort:
 
Die Gelassenheit ist in der Tat das Sichloslassen aus dem transzendentalen Vorstellen und sei ein Absehen vom Wollen des Horizonts. Dieses Absehen kommt nicht mehr aus einem Wollen...“
 
Heidegger setzt sich ebenso wie in dem oben genannten Buch mit der technischen Entwicklung auseinander. Bei Entstehung der Schrift war eine mögliche Auslöschung der Menschheit durch die Atombombe in den Köpfen allgegenwärtig. So verbindet er die Gelassenheit mit der Gefahr, dass eine „totale Gedankenlosigkeit“ entstehen könnte, sollte dem Menschen das „rechnende Denken“ als das einzige Können „in Geltung und Übung bleiben. Dann ginge mit dem höchsten und erfolgreichsten Scharfsinn des rechnenden Planens und Erfindens – die Gleichgültigkeit gegen das Nachdenken, die totale Gedankenlosigkeit zusammen.“ Diese Aussage ist erstaunlich, konnte der Philosoph doch die rasante Entwicklung der Informationstechnologie, aufbauend allein auf Rechenprozesse in den Computern, noch nicht voraussehen.
 
„Allein – die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis fallen uns niemals von selber zu. Sie sind nichts Zu-fälliges. Beide gedeihen nur aus einem unablässigen herzhaften Denken.“
 
Ich bin bei diesen Erörterungen von der Gelassenheit ausgegangen, die sich in dem bekannten „Gebet“ ausdrückt, dessen Urheberschaft verschiedenen Autoren zugesprochen wird:
 
„Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine von dem anderen zu unterscheiden.“
 
Am Ende angelangt, bin ich bei der Auffassung, dass es besser für den Menschen sei, nicht alles Mögliche umzusetzen, denn das könnte zu einem Verfall des Nachdenkens führen, das mit der Gelassenheit einher kommt.
 
Gelassenheit hat also mit Reife zu tun, die aus dem Nachdenken über die Dinge entstanden ist. Das entspricht dem wissenschaftlichen Disput über die Interpretation vieler Entwicklungen und Phänomene von heute, sei es beispielsweise dem Klimawandel, der Technisierung der Gesellschaft und der Beurteilung der politischen Prozesse.
 
In dem Büchlein von Heidegger geht der „Forscher“ Genannte noch auf Heraklit und dessen Fragment 122 ein, das nur aus einem Wort besteht, „ΑγΧßβασßη“. Zuerst übersetzt er es mit „Herangehen“, einsetzbar als Leitwort für eine Abhandlung über das Wesen der modernen Wissenschaft. Später wird ausgesagt, dass die wörtliche Übersetzung „Nahegehen“ sei: „im Sinne von 'In-die-Nähe-hinein-sich-einlassen'“.
 
Das scheint mir eine sinnvolle Einstellung zu sein: Gelassenheit bei der Beschäftigung mit neuen Erkenntnissen und Erfindungen zu bewahren, und wenn es in der persönlichen Entscheidung liegt, zu überlegen, ob es sich lohnt, sich darauf einzulassen.
 
Let it be.“ „So sei es“, Amen!
 
 
Quellen
Heidegger, Martin: „Gelassenheit“, Verlag Günther Neske, Pfullingen, 1959.
Ottmann, Henning, et al., Hrsg.: „Gelassenheit – und andere Versuche zur negativen Ethik“, LIT Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich-London, 2014.
 
 
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