Textatelier
BLOG vom: 27.01.2015

Das instrumentalisierte Auschwitz: Tabus der Erinnerung

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU/CH
 
 
Im Kanton Luzern und noch an vielen anderen Orten der deutschsprachigen pädagogischen Provinz wird am 27.01.2015 der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. Vor 20 Jahren habe ich aus diesem Anlass eine Lager-Überlebende, Jenny Spritzer, an die Kantonsschule Beromünster LU geholt. Vor 10 Jahren und noch später liess ich von den Maturanden den Meisterroman „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker lesen, ein raffiniertes Literaturstück.
 
Das Lügen spielte beim Überleben in schwierigsten Situationen schon immer eine Rolle. Im Zusammenhang mit Auschwitz ist billiges Leugnen der dortigen Verbrechen strafbar. Die Wahrheit ist nicht strafbar, bleibt aber trotzdem oft auf der Strecke. Sie versteckt sich dann und wann in eher bescheidenen Texten – warum nicht im „Tagebuch der Anne Frank“? – als in Überblicksartikeln. In der neuesten Nummer des SPIEGELS überzeugen Aussagen von Überlebenden. Ihr Zeugnis lebt von der Würde der Authentizität. Der redaktionelle Gedenkartikel bewegt sich verbal im Rahmen herkömmlicher deutscher Holocaust-Zerknirschung. Deren Bezeugung lässt nicht mehr allgemein aufhorchen.
 
Gabriel Bach – eindrücklicher Zeitzeuge
Unter den Gedenkartikeln zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz Ende Januar 1945 ragt ein Interview heraus, das Tages-Anzeiger-Redaktor Daniel Foppa mit dem seinerzeitigen Eichmann-Verhörer Gabriel Bach machen konnte. Insofern dieser sauber argumentierende Jurist, in Deutschland aufgewachsen, zwei Jahre fast täglich mit dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann sprach, wurde er ein hervorragender Zeitzeuge. Es gelang ihm, am Beispiel von Einzelfällen, die „Arbeit“ von Eichmann genau zu rekonstruieren. So zum Beispiel, dass selbst ein Wehrmachtgeneral nicht über die Kompetenz verfügte, Eichmann gegenüber einen für die Armee wichtigen Juden vor der Deportation zu bewahren. Auch gelang Bach der Nachweis, dass Eichmann, etwa im Fall der Deportation von 8700 ungarischen Juden, einen „Führerbefehl“ übererfüllt hat.
 
Interessant und auch knallhart recherchiert war die Arbeit Bachs betreffend Postkarten von Auschwitz-Häftlingen, welche nachweisbar erzwungene Aussagen enthielten. Überdies zeigte Gabriel Bach auf, dass Hannah Arendt, die ehemalige Geliebte des Philosophen Martin Heidegger, deren Buch über Eichmann und die Banalität des Bösen allgemein ernst genommen wird, an seriösem Aktenstudium nicht interessiert war. Die Dame scheint alles schon im Voraus gewusst zu haben, wollte ihre These von der Banalität des Bösen von lästiger Detailarbeit freihalten. Zwischen der spekulationsfreudigen Philosophin Hannah Arendt und dem die Welt durch die Brille des Juristen sehenden Gabriel Bach stimmte – zur Zeit des Eichmann-Prozesses in Jerusalem - die Chemie offensichtlich nicht.
 
Hannah Arendts Sicht von Auschwitz hat sich bei vielen Intellektuellen durchgesetzt. Es geht schon lange nicht mehr um den Teufel, der im Detail sitzt. So darf man für den weithin überschätzten, weil oft unverständlich bramarbasierenden Philosophen Theodor W. Adorno nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, „bloss musiktheoretische Abhandlungen mit vielen Fremdwörtern“, wie Autor Jürg Federspiel vor 30 Jahren pfiffig ergänzte. Für Adorno waren die Flächenbombardierungen in Deutschland 1945 eine gerechte Strafe für Auschwitz. Noch in der „Spiegel“-Nummer vom 24. Januar 2015 vermerkt eine Überlebende des Konzentrationslagers, früher bei ihren Erzählungen bei Deutschen immer nur mit dem Hinweis auf die Bombennächte „gekontert“ worden zu sein, was unerträglich sei. Objektiv war es für beide Sorten Überlebende unerträglich, je vom Leid der anderen zu hören, was dann als Relativierung ihres eigenen Leides verstanden werden konnte. Auschwitz war in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht das Hauptthema, wiewohl diese Geschichte nie mehr unterdrückt werden konnte. Reichsmarschall Hermann Göring realisierte mit Recht, dass Auschwitz, angeblich exklusiv das Geschäft von Heinrich Himmler, den Nürnberger Angeklagten die Verteidigungsstrategie wie kein anderes „Detail“ vergällte.
 
Kann der 87-jährige Gabriel Bach als ein hervorragender Auschwitz-Experte gelten, soweit er den später hingerichteten Eichmann mit knallharten Beweisen konfrontieren konnte, fällt beim Interview im Tages-Anzeiger auf, dass der alte Mann in einigen Details trotzdem nicht mehr auf dem Stande der Forschung ist. So können die „Geständnisse“ des Lagerkommandanten Rudolf Höss, der Eichmann in Sachen Grausamkeit schwer belastet hat (zur eigenen Entlastung) nicht zum Nennwert genommen werden. Allein schon die von Höss angegebenen Opferzahlen mussten, jetzt auch im offiziellen Auschwitz-Memorial, um weit über eine Million nach unten korrigiert werden. Weder Höss noch später der wohl fähigste Minister Adolf Hitlers, Albert Speer, können nach heutigen Kriterien streng als Geschichtsquellen genommen werden, obwohl sie vieles zweifelsohne besser wussten als andere. Es gibt eindeutige Auschwitz-Lügen, nicht zu verwechseln mit ungeklärten Fragen, aber die Wahrheit kristallisiert sich nur am Einzelfall. An diesem ist man, wie Hannah Arendt, oft nicht brennend interessiert, weil der Einzelfall manchmal vorgefasste Vorstellungen als nicht zutreffend oder „so nicht zutreffend“ erweisen kann.
 
Auschwitz ist nicht „Charlie-Hebdo“-tauglich
Es gibt speziell unappetitliche Seiten der KZ-Forschung, so das Standardwerk über die KZ-Bordelle von Robert Sommer. Der banal-absurde Alltag in den KZs, etwa in Mauthausen, einschliesslich des Sportbetriebs, wirkt verwirrend und kann im Einzelfall die Holocaust-Andacht stören. „Störung der Andacht“ hat nichts zu tun mit Relativierung. Dabei muss zwischen der Forschung einerseits und der Ritualisierung von Auschwitz andererseits streng unterschieden werden. Letztere läuft seit Jahrzehnten auf eine Art Zivilreligion hinaus. Es geht also nicht um den Grundwert des Wahren, sondern um den – durchaus berechtigten – Grundwert des Heiligen, insoweit das Gedächtnis der Opfer Anspruch hat auf Respektierung, wenn nicht Verehrung. Auschwitz-Opfer zu verhöhnen gilt in Westeuropa als die juristisch grösstmögliche, nicht Charlie-Hebdo-taugliche Blasphemie, vergleichbar mit der Verhöhnung des Propheten Mohammed als in islamischen Ländern unverzeihliche Verruchtheit, worauf Muslime schon wiederholt aufmerksam gemacht haben. Man kann es von Leuten hören, die gemässigter sind als der Iraner Mahmud Ahmadinedschad.
 
Selber habe ich in meinem Buch „Fundamentalismus – Eine neue Bedrohung?“ 1989 dargetan, dass in jeder zivilisierten Gesellschaft die Meinungsfreiheit dort ihre Grenzen finde, wo die wahren Meinungsverschiedenheiten beginnen würden. Vielleicht aus diesem Grund konnte ich den unten stehenden Essay „Auschwitz, Derrick und die Zivilreligion“, verfasst vor eineinhalb Jahren, auch nirgends veröffentlichen. Was die Auschwitz-Diskussion betrifft, so äusserte ich mich auch schon mal über die in Polen gängigen Animositäten betreffend die Opfer-Priorität. Aus polnischer Sicht standen aus naheliegenden Gründen weder die Homosexuellen noch die Zigeuner im Vordergrund, nicht mal die am meisten gebeutelten Juden, sondern die polnischen Opfer. Deren prominentester Repräsentant, der Franziskaner-Pater Maximilian Kolbe, 1941 im Hungerbunker als letzter Überlebender durch eine Phenol-Spritze ermordet, wurde von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen. Dies verweist auf unterschiedliche Aspekte der Erinnerungskultur. Man muss, unabhängig zu welchem Lager man gehört, stets aufpassen, dass man über Auschwitz nichts Verfängliches sagt. Aus diesem Grund machen Statements, zumal von Politikern und Kirchenleuten, sogar von Journalisten, einen mehr und mehr ritualisierten Eindruck. Im Allgemeinen und streng historisch sind sie nicht immer zum Nennwert zu nehmen.
 
Auschwitz, Derrick und die Zivilreligion
Im Mai 2013 liessen vergangenheitspolitische Nachrichten wieder einmal aufhorchen. Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) zeigte sich „befremdet“ darüber, dass „Derrick“-Darsteller Horst Tappert, wie schon der Schöpfer der Serie, Herbert Reinecker, 1942 in Russland als Soldat der Waffen-SS gedient hat. Wiederholungen der einstigen Lieblingssendung von Papst Johannes Paul II. sind darum nicht mehr vorgesehen. Dieser Überzeugung haben sich auch Fernsehstationen in Frankreich und in den Niederlanden angeschlossen. Fast gleichzeitig gab das EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten) bekannt, für die Erhaltung der Gedenkstätten von Auschwitz-Birkenau eine Million Euro zur Verfügung zu stellen.
 
Insgesamt wurden für die bekannteste Gedenkstätte nationalsozialistischer Verbrechen 100 Millionen gefordert. Das EDA hebt in der Begründung für seine Leistung hervor, es gebe heute noch Holocaust-Leugner. Darum sei „eine nachhaltige Erhaltung der Spuren dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus politischer Sicht aktueller denn je“. Zur Begründung weist das EDA auch auf Auschwitz-Reisen jüdischer Organisationen hin. Gemäss der Zeitschrift „Tacheles“ wurden diese 2011 zum Spezialpreis von 449 Franken angeboten.
 
Redaktor Yves Kugelmann bemerkte jedoch schon damals kritisch: „Auschwitz ist chic. Und funktioniert immer. In gewichtigen Reden, im engagierten Unterricht oder in absatzträchtigen Filmen. Auschwitz ist Ikone geworden (…), muss permanent und inflationär für die Schoah und den israelischen Nationalismus herhalten. Busweise werden Jugendliche in die vermeintliche Einöde mit Supermarkt und Karmeliterkloster gekarrt, durch Auschwitz-Birkenau geschleust, an der Todeswand vorbei, zur Rampe – und erfolgreich mit dem Schockerlebnis und vielen Erinnerungsfotos nach Hause geschickt.“ Das Statement von Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz aus den 1990er-Jahren, Auschwitz liege nicht in der Schweiz, wurde von Redaktor Gugelmann jedoch als Zynismus zurückgewiesen.
 
„Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt“ lautete der Titel eines einst (1997) provozierenden Buches von Adolf Muschg. Die damals heftig geführte Debatte war nicht immer aus dem Zusammenhang der Solidarität mit dem Judentum zu begreifen. Wenn vom Antisemitismus bei Bundesräten und Mitgliedern der Generalität die Rede war, liefen nicht selten innenpolitisch motivierte Beschuldigungsrituale ab. Eine Abrechnung etwa mit den Bundesräten Philipp Etter (Zug) oder Ludwig von Moos (Obwalden) wegen früher Aussagen über „Warenhausjudentum“ erfolgte kaum in der Absicht, ein zweites Auschwitz zu verhindern. Oppositionelle Historiker und Jungpolitiker verarbeiteten damals eigene traumatische Erfahrungen mit vormals mächtigen ultrarechten Katholisch-Konservativen. Diese hatten einst auch Linke und Liberale schikaniert. Der Nachweis des Antisemitismus war in diesem Sinn als Erledigungsargument willkommen.
 
Wie die bei weitem härtere Auseinandersetzung dazu in Deutschland vor 40 Jahren lief, hat der jüdische Publizist William S. Schlamm auf die Formel gebracht: „Wenn Exnazis Exnazis Exnazis nennen.“ Dabei konnte der kalte Krieger und Literat Schlamm damals nicht wissen, dass seine „antifaschistischen“ Antipoden Walter Jens und Günter Grass Parteigenosse bzw. SS-Angehöriger gewesen waren. Auch Carol Wojtyla alias Papst Johannes Paul II. wusste nicht, dass sein Lieblingsschauspieler Horst Tappert einst bei der Waffen-SS gedient hatte. Ob sich der bauernschlaue Pole wohl von dieser Neuigkeit überrascht gezeigt hätte?
 
Vor 50, 60 und mehr Jahren bedeutete die vormalige Zugehörigkeit zur Waffen-SS nicht einmal in der Schweiz, geschweige denn in Deutschland und Österreich, eine automatische Disqualifikation für öffentliche Aufgaben. 1946 schrieb in der damals noch als linksliberal geltenden „Weltwoche“ der Schweizer Armin Mohler einen Artikel über Ernst Jünger. Der gebürtige Basler war statt zur Fremdenlegion oder in den Spanischen Bürgerkrieg zur Waffen-SS abgehauen, wo er als Intellektueller jedoch nicht reüssierte. Die entsprechende Gesinnung war ihm jedoch schwerlich abzusprechen. Deshalb musste er dann auch nach seiner Heimkehr in die Schweiz, wie schon vor ihm Spanien-Kämpfer, ins Kittchen. Diese Vergangenheit hinderte ihn aber nicht, für die ebenfalls linksliberale „TAT“ von Gottfried Duttweiler Paris-Korrespondent zu werden.
 
Die späteren „Derricks“ Herbert Reinecker und Horst Tappert konnte man bei der Waffen-SS wohl mit Sicherheit besser gebrauchen als den verhinderten Schweizer Vaterlandsverräter Armin Mohler. Ob indes Tappert für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden kann, liegt im Sinne der Unschuldsvermutung so wenig auf der Hand wie das Gerücht, dass einstige Spanienkämpfer Nonnen in Säcken ertränkt hätten. Ohnehin können die vor bald 80 Jahren liquidierten rund 6000 spanischen Kleriker nicht mit den Ereignissen an der Ostfront verglichen werden.
 
Einerseits gab es dort noch mehr Opfer, andererseits kämpfte die spanische Republik im Sinne von Hegel für den Sieg der Aufklärung. Dies macht den Unterschied, warum Spanienkämpfer rehabilitiert und im Sinne linker Erinnerungskultur mit Gedenktafeln geehrt werden, ganz im Gegensatz zu SS-Kämpen. Horst Tapperts Ostfront und Orwells Katalonien (bis heute die schärfste linke Kritik am spanischen Bürgerkrieg) sind indes mit Auschwitz kaum vergleichbar. Dass es immer noch „Auschwitz-Leugner“ gebe, wie das EDA seine Millionenspende rechtfertigt, ist unbestreitbar. Die von dem entsprechenden politischen Lager unterhaltene Webseite „Metapedia“ arbeitet mit selektiv ausgewähltem Zahlenmaterial, erreicht mutmasslich damit nur Gleichgesinnte. Dabei bleibt Auschwitz von allen Massenmorden der Menschheitsgeschichte in Schule, Presse, Film, Literatur und Öffentlichkeit der westlichen Welt das am intensivsten gepflegte Thema. Ein Beispiel für viele: Im Kanton Luzern zum Beispiel wurden zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (2004) mehrmals vom Bildungsdepartement empfohlene Aktionen durchgeführt. Entsprechend wurden an einem Gymnasium zum entsprechenden „Holocaust“-Tag sogar die Toilettenkabinen innenseitig mit Auschwitz-Plakaten verziert. Um Schüler vor der Versuchung des Neonazismus abzuhalten. Gut gemeint ist nicht immer ein Volltreffer.
 
Grundwert des Heiligen und Rousseaus „Zivilreligion“
Als Ethik-Lehrer machte ich darauf aufmerksam, dass die Leugnung des „Holocaust“ (der Ausdruck wurde erst durch eine amerikanische Fernseh-Serie der siebziger Jahre allgemein bekannt) sich nicht mit herkömmlichen historischen Kriterien messen lasse, vergleichbar mit der Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz von Winkelried. Abgesehen von den peinlichen Diskussionen um die Gesamtzahl der Opfer, die dem historischen Diskurs angehören, bedeute Leugnung der Auschwitz-Verbrechen vor allem eine Demütigung und Schändung des Andenkens der Opfer. Beim Totengedenken gehe es um den Grundwert des Heiligen.
 
Der Grundwert des Heiligen gehört in den Bereich der Religion. So würde es auch eine „Vernütigung“ bedeuten, zum Beispiel den von Elias Canetti in seiner Autobiographie eindrucksvoll nacherzählten Massenmord an den Armeniern als „nicht geschehen“ zu bezeichnen. Damit wird das Andenken an die Opfer beleidigt, sofern dies überhaupt möglich ist.
 
Insofern die Auschwitz-Leugnung auch einen Verstoss gegen den Grundwert des Heiligen darstellt, wäre die von der Schweizerischen Eidgenossenschaft gespendete Million als Opfergabe interpretieren. Jedoch keineswegs im Sinne der jüdischen Religion oder des katholischen Opfer-Begriffs. Es ist eine Opfergabe im Sinn einer bedingungslosen Gehorsam fordernden „Zivilreligion“. Der Begriff stammt aus dem 8. Kapitel von Buch IV des „Contrat social“ (1762) von Jean-Jacques Rousseau und meint die verfassungsmässig vorgeschriebene gute Gesinnung aller republikfähigen Menschen. Strukturelemente einer solchen Zivilreligion haben sich in zahlreichen westlichen Ländern durchgesetzt, besonders in der Bundesrepublik Deutschland. Deren für internationale Vortragstätigkeit lange Zeit besthonorierter Politiker, ex-Aussenminister Joschka Fischer, hat sich nach seiner Zeit als katholischer Ministrant nie mehr zu einem religiösen Glauben bekannt. Umso bedeutsamer wurde für den Sohn eines ungarischen Metzgers die Chiffre „Auschwitz“. Damit sich Auschwitz nicht wiederhole, schwor er als Aussenminister (zum Jugoslawienkrieg) dem grünen pazifistischen Bekenntnis ab. Sind höchste und letzte Begründungen im Spiel, dann muss Auschwitz herhalten. Es handelt sich in diesem Sinn oftmals um einen Akt zivilreligiöser Liturgie.
 
Beim EDA freilich und „seiner“ Auschwitz-Million scheint die zivilreligiös motivierte Haltung kaum von Georg Wilhelm Friedrich Hegels berühmt-berüchtigter „Wuth gegen das Böse“ erfüllt gewesen zu sein. Wie schon bei der Debatte um die sogenannte Solidaritätsstiftung in den 1990er-Jahren ging es eher darum, durch vorbildliche politische Korrektheit Schaden von der Schweiz abzuwenden. Mit zur Zivilreligion gehören in diesem Sinn Opferzahlungen; im Geist des 15. und 16. Jahrhunderts Ablasszahlungen, die zum Beispiel auch für die „Klimapolitik“ den Schaden für die Wohlstandsgesellschaft in Grenzen halten können.
 
Aus historischer Sicht müssten derlei Zahlungen grundsätzlich nicht falsch sein. Es bleibt jedoch nicht zu übersehen, dass die Angelegenheit schon lange einen kultischen Charakter angenommen hat und mit dem Gedenken an andere Völkermorde, etwa denjenigen an den Ureinwohnern in den Westindischen Inseln, welche ganz verschwunden sind und an die sich deshalb niemand mehr erinnert, nicht verglichen werden können. Allein schon nach der Lektüre der „brevisima relacion de la destruccion de las Indias Occidentales“ des Dominikanermönchs Bartolomé de Las Cases, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger, ist die Glaubenssatzthese von der Einmaligkeit der Auschwitz-Verbrechen nicht haltbar. Einmalig an Auschwitz sind nicht die dort dokumentierten Verbrechen, sondern der damit verbundene Kult einschliesslich politischer Ritualisierung. Dass allerdings der Repräsentant der Befreier, Wladimir Putin, 2015 nicht mit von der Partie ist, macht diese zunehmend umstrittene Instrumentalisierung nicht glaubwürdiger.
 
Noch längst nicht alle Geschichten sind erzählt
Als Historiker habe ich mich auf den Standpunkt zurückgezogen, nur das zu glauben, was ich wenn immer möglich selber nachrecherchieren konnte. Dazu gehörten Gespräche mit Überlebenden. Am eindrücklichsten möglich war das mit der eingangs erwähnten ehemaligen jüdischen Büroangestellten in Auschwitz, Jenny Spritzer, deren Memoiren vor 20 Jahren der Verleger Paul Rothenhäusler in Stäfa neu herausgab. In einem Zürcher Altenheim ist noch ein Mitglied des einstigen Lagerorchesters am Leben. Im Kanton Freiburg eine Frau, die das Lager als Kind überlebt hat. Dass sie sich vor 60 Jahren mit Wiedergutmachungszahlungen einen Porsche anschaffte, zeigt, dass nicht alle Überlebenden die Lebensfreude verloren haben und dass die Meinung des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertez, das Thema Auschwitz könne partiell mit Humor gesehen werden, nicht ganz falsch ist. Dabei sind Einzelfälle nie repräsentativ. Doch besteht die Erzählung der Geschichte, wie der Philosoph Hermann Lübbe, mein Lehrer, betonte, aus der Systematik der Einzelfälle. Wichtig ist am Ende der Einzelfall, so wie der Einzelfall auch in den Naturwissenschaften am Ende über das Gesetz bestimmt. Über Auschwitz sind mutmasslich noch längst nicht alle Geschichten erzählt.
 
Zur Bestätigung der Schweizer Millionenspende zur Erhaltung von Auschwitz hat Aussenminister Didier Burkhalter sowohl in seiner Eigenschaft als damaliger OSZE-Vorsitzender wie auch als Bundespräsident 2014 Auschwitz besucht und dazu einen fehlerfreien Kommentar abgeliefert. Dass Burkhalter es zum „Schweizer des Jahres“ gebracht hat, hängt mit der beeindruckenden formalen Präzision zusammen, womit er sehr vieles, was er anpackt, zu einem brauchbaren Ende führt. Ob ihm das bei den Verhandlungen um die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union auch gelingen wird?
 
 
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