Textatelier
BLOG vom: 18.02.2015

Reaktionen auf Blogs (153): Umgangsformen und Anstand

Zusammenstellung der Blog-Reaktionen: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
 
Das demonstrative Küssen und Knutschen vor möglichst grossem, versammeltem Publikum, wie es zum telegenen und sogar zunehmend zum politischen Alltag gehört, ist eine Zumutung für Zuschauer und ein Ausdruck des Zerfalls der Umgangsformen. Im Blog vom 12.02.2015 habe ich mein Empfinden dargestellt: Aktuelle Form- und Stillosigkeiten: Knutscherei und Duzerei. Damit bin ich auf Verständnis gestossen. Pirmin Meier, „einer der Besten, wenn es darum geht, die heutige Schweiz aus der gestrigen zu erklären“ (so Klaus J. Stöhlker in seiner profunden Darstellung der aktuellen Schweizer Literatur in der „Weltwoche“ 7-15) tat genau das. Mit Bezug auf meinen Aufsatz, den er als „Beitrag zur Gegenwartskultur“ einstufte, schrieb der bekannte Historiker aus Beromünster LU/CH:
 
Lieber Walter,
 
Im Wissen, dass man nicht mehr zur allerjüngsten Generation gehört, war es nichtsdestotrotz ein kulturkritischer Beitrag, sich über die peinliche Küsserei und die nicht zu vergessende Duzerei mal differenzierend auszulassen. Eine kritische Theorie der Küsserei hat im 19. Jahrhundert bereits Sören Kierkegaard in seinem „Tagebuch des Verführers“ geleistet, etwa in der Formel „der küssende Geheimrat“, der sich in einem Mädcheninternat anmasste, die dortigen Mädchen küssen zu dürfen, was ein bisschen an den Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, und die ehemalige Immensee-Internatsschülerin Simonetta Sommaruga erinnert. Immerhin hat diese sich am 11. Februar 2015 noch mit Humor aus der Patsche geholfen, indem sie auf ein der Bundesratspressekonferenz vorangegangenes Telefongespräch mit Juncker verwies, welches „kusssicher“ abgelaufen sei.
 
Wie auch immer, die Küsserei und Duzerei geht in Richtung Bedeutungsentleerung des Vertraulichen hin zu einer allgemeinen banalen Unverbindlichkeit. Ich kann mir vorstellen, dass auch Junge diesen Gedankengang nachvollziehen können, zumal es schon in allen Generationen ein Horror war, beispielsweise von dieser oder jener Tante geküsst zu werden bzw. eine solche Tante küssen zu müssen. Letzteres Problemfeld gehört übrigens zur Wissenschaft der Tantologie.
 
Herzlich
Pirmin Meier
 
Wie steht es mit dem Anstand der Menschen?
Im vorangegangenen Reaktionen Blog vom 04.02.2015 (Reaktionen auf Blogs (152): Was sind westliche Werte?) ist unter anderem eine lebhafte Diskussion über die Arbeit von Gerd Bernardy zur deutschen Identität („Narrationen und Narreteien zur Identität Deutschlands“ vom 29.01.2015) publiziert. Dr. Martin Eitel aus Berlin bereicherte diese mit einer ausführlichen Stellungnahme, insbesondere zum Diskussionsbeitrag von Pirmin Meier, wie folgt:
 
Den Ausführungen von Herrn Dr. Meier zur vorurteilsfreien Betrachtung auch von Kommunisten, Muslimen und auch der früheren NSDAP-Mitglieder und seiner Einschätzung, er bestreite, dass die Menschen seit 1933 substanziell besser geworden seien und betrachte als Historiker jeden Menschen bis zum Beweis des Gegenteils als anständigen Menschen, kann ich mich eigentlich vollumfänglich anschliessen. Völlig richtig und wichtig scheint mir auch der Hinweis, dass er auch für die Mitglieder der NSDAP die Auffassung vertritt, dass der Anteil der Mörder bei vielleicht einem bis zwei Prozent gelegen haben dürfte und dass diese Leute grossmehrheitlich genauso anständig waren wie zum Beispiel die Mehrheit der Muslime.
 
Unterschiedlicher Auffassung sind wir im Wesentlichen hinsichtlich des von mir verwendeten Begriffs Nazi-Offizier und der Frage, inwieweit ein Nachruf auch kritische Anmerkungen enthalten sollte.
 
Ich denke nicht, dass ich mich naziphob gebe. Ich habe vielmehr durchaus Verständnis dafür, dass nach der Wirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre sich viele durch die NSDAP-Politiker einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft haben. Gleiches gilt im Übrigen für die Kommunisten in der DDR, in der ja nicht alles schlecht war, auch wenn die Einmauerung und Bespitzelung der Bürger und deren Verfolgung und Ermordung bei Republikflucht natürlich indiskutabel waren.
 
Tatsache ist jedenfalls, dass in der Bundesrepublik nach 1945 Personen wie der in der Schweiz unerwünschte und mit einem Einreiseverbot belegte Dr. Hans Maria Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze und von 1953 bis 1963 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer Chef des Bundeskanzleramts, und sogar verurteilte Kriegsverbrecher wie z. B. Führungskräfte von IG Farben (Fritz ter Meer und andere) wichtige politische Funktionen und Posten in der Wirtschaft bekleidet haben, während durch den sogenannten Radikalenerlass Kommunisten wie z. B. der jetzige Ministerpräsident Winfried Kretschmann systematisch aus dem Staatsdienst ferngehalten wurden.
 
Kretschmann war früher mal wie andere jetzt zu den Grünen gehörende Politiker Mitglied des maoistisch ausgerichteten Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) und durfte daher damals nicht Lehrer an einer staatlichen Schule werden. Und anders als führende Vertreter der Nazizeit nach 1945, die wieder im Staatsdienst beschäftigt wurden, wurden nach der deutschen Wiedervereinigung ab 1990 ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi, die in öffentlichen Verwaltungen, ob als Hausmeister in einer Schule oder als Elektriker bei der Post, eine Stellung gefunden hatten, entlassen, ohne dass die kündigende Behörde ein Fehlverhalten des früheren Stasi-Mitarbeiters nachweisen musste. Es genügte, wenn die Beschäftigung in der Öffentlichkeit Unwillen erregte. Auch ohne naziphob zu sein, kann man diese Ungleichbehandlung von (Alt-)Nazis und Kommunisten sehr wohl kritisieren.
 
Am 26. September 1995 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellt, dass der deutsche Radikalenerlass in Bezug auf bereits eingestellte öffentliche Bedienstete einen Verstoss gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.
 
Was den von mir verwendeten Begriff Nazi-Offizier betrifft, muss ich in der Tat einräumen, dass ich den ohne böse Absichten aus dem Titel des „Focus“-Beitrags übernommen habe. Aufgrund der Verwendung beim Focus schien mir der Begriff nicht so schlimm.
 
Was die Frage betrifft, wie kritisch ein Nachruf sein darf bzw. vielleicht sogar sein muss, sehe ich die Sachlage jedenfalls für eine Person des öffentlichen Lebens und auch einen Spitzenpolitiker durchaus so wie das Magazin „Focus“. Bei einer solchen öffentlichen Person halte ich kritische Anmerkungen nicht nur für zulässig, sondern für eine wahrheitsgemässe und vollständige Berichterstattung sogar für geboten.
 
Das kann man aber natürlich durchaus auch anders sehen. Die Firma Boehringer Ingelheim, deren Geschäftsführungsmitglied Dr. Richard von Weizsäcker war, hat ja ihrerseits den Dioxinskandal und die Beteiligung der Führungskräfte aufarbeiten lassen, wobei dann die an Weizsäcker gerichtete interne Information herausgekommen ist.
 
Als die Nazizeit nicht miterlebender „Untertan“ des Bundespräsidenten von Weizsäcker, der für seine Untertanen der deutschen Erinnerungskultur an die Verbrechen der Nazis den Weg predigte und als Staatsoberhaupt oft und zu Recht für eine Kultur des Erinnerns, auch an die dunklen Momente der eigenen Geschichte, geworben hat, meine ich, erwarten zu können, dass er sich auch selbst an dunkle Momente seiner eigenen Geschichte erinnert und sich nicht pauschal auf Unkenntnis beruft, gerade wenn die Aktenlage wie im Dioxinskandal die Unkenntnis widerlegt. Ich räume auch gern ein, dass derjenige, der - wie Herr Dr. Meier - als Schweizer Bürger von dieser „Predigt“ des Herrn Dr. Richard von Weizsäcker persönlich nicht betroffen ist, das durchaus weniger streng sehen kann als ein davon betroffener „Untertan“ des deutschen Bundespräsidenten.
 
Abschliessend möchte ich klarstellen, dass es mir nicht um eine negative Darstellung des Dr. Richard von Weizsäcker ging und geht, sondern um die Betonung seiner ambivalenten Person. Ich habe deshalb im Übrigen bewusst von Quellen Abstand genommen, die Dr. Richard von Weizsäcker schon vor Jahren deutlich kritischer bewertet haben, wie z. B.:
 
Vor der Wahrheit den Blick verschlossen
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und seine bis heute unaufgeklärte Rolle in den letzten Kriegstagen 1945 von Doris Neujahr, 01. Juni 2007.
 
 
Auch das Werk des Zeitzeugen Hennecke Kardel, Leutnant a. D., der 1945 in Ostpreussen in russische Gefangenschaft geriet und schon 1991 ein sehr kritisches Buch über Dr. Richard von Weizsäcker veröffentlichte, habe ich bewusst weggelassen.
 
Von Weizsäcker: ein Mann nach dem Herzen Gottes
Autor: Hennecke Kardel
Verlag Lühe-Verlag, 1991
ISBN 3926328541, 9783926328540
Länge: 26 Seiten.
 
Aus diesem Buch sind Ausschnitte im Internet veröffentlicht.
 
 
Liebe Grüsse in die Schweiz
 
Martin Eitel
 
Zu Breitenmosers Lehrtätigkeit: Bericht aus Australien
 
Es ist an der Tagesordnung, dass ältere Blogs, die im Internet verankert und auffindbar sind, irgendwo als Trouvaillen wahrgenommen werden. So erging es dem Blog vom 25.06.2014: Zzart: Ivar Pirmin Anton Breitenmoser und konkrete Poesie, verfasst von Pirmin Meier. Von Emily Purser in Australien erreichte uns dazu diese herzberührende Zuschrift:
 
Thank you for posting this. It broke my heart to read that he has died, but I have to let you know the powerful and wonderful trace he left in my memory, so very long ago... a very special man, and the best German teacher I ever had
 
Danke Ivar, nach 30 Jahren noch oft denke ich doch an Dich …
 
‒ from an Australian, who lived a while in Zurich once, and was lucky enough to be in Ivar's class at the Volkshochschule, 1980‒81.
 
Emily Purser
 
Pirmin Meier freute sich über dieses Echo. Sein Nachwort:
 
Ich wusste, dass dieser Ivar Anton Pirmin Breitenmoser ein genialer Typ war, genauso und wie in noch universalerem Ausmass Virgilo Masciadri. Ich bleibe jedoch bei solchen Perspektiven bei weitem mehr allein als mit politischen oder allgemein zivilisationskritischen Aussagen. Das könnte einen traurig machen, wäre jetzt nicht dieses Echo aus Australien.
 
Elias Canetti sagte mir, etwas viel besseres als einen guten Lehrer könne es auf Erden nicht geben. Galt offenbar für den Lehrer-Schriftsteller Ivar Breitenmoser. Ausser mir hat fast niemand sein Ableben beachtet.
 
Mit Grüssen nach Australien!
 
Pirmin Meier
 
Aufklärung begrüsst
Wie am Schlusse der Hinweise (ganz unten) erwähnt ist, werden die Blogs aus dem Textatelier.com auch in den Sozial- beziehungsweise Mitmachmedien Twitter und Facebook angezeigt. Deshalb ergeben sich auch von jener Seite immer wieder Kontakte. So schrieb Grete Becker am 04.02.2015 ins Facebook:
 
Hallo und guten Tag. Ich habe eine Freundschaft mit Ihnen gewünscht, weil die Informationen und Berichte, die von Ihnen im Facebook erscheinen, sehr aufklärend sind. Seit meiner Pensionierung habe ich mich eigentlich nicht so sehr für Politik usw. interessiert. Doch ich finde Ihre Berichte und Hinweise gut.
 
Grete Becker
 
Solche Anerkennungen freuen alle Mitwirkenden an unserer Webseite. Dermassen interessierte Leserinnen und Leser um uns zu scharen, ist für uns alle ein Geschenk, der schönste Dank. Wir werden uns auch in Zukunft alle Mühe geben, Sie und alle anderen Nutzer, Blogleser, Freunde und Follower, nicht zu enttäuschen. Wir wollen auf kaum bekannte Fakten und Zusammenhänge aufmerksam machen und in dieser oberflächlichen Zeit etwas zur aufklärerischen Volksbildung beitragen, sind umgekehrt aber auch dankbar für weiterführende Impulse aus unserer Leserschaft.
 
Walter Hess
 
 
Hinweis auf die bisher erschienenen Reaktionen auf Blogs
 
 

 
 
Informationen und Gedanken in Kürzestform
 
 
Über 6700 Tweets können unsere Nutzer einsehen und lesen:
 
Ganz einfach den Icon mit dem stilisierten Twitter-Vögeli auf unserer Startseite (unten rechts)
 
 
anklicken. Sie erhalten: Anregungen und auch etwas Spass für Eilige, finden Links zum Zugang zu wenig bekannten Originalartikeln.
 
Selbstverständlich sind wir auch auf Facebook vertreten:
 
 
Neue Tweet-Follower und Facebook-„Freunde“ sind jederzeit willkommen. Im Twitter-Netzwerk haben wir zurzeit 1493 Follower (regelmässige Empfänger unserer Kurznachrichten, Tweets genannt).
 
Wir dürfen und wollen uns den neuen Sozialmedien bei all den Vorbehalten nicht verschliessen. Es sind die aktuellen Werkzeuge, welche die Fortsetzung der Informationsgeschichte markieren. Sie kennen im Prinzip keine zensurierende oder nur eine zurückhaltende Selektion, im Gegensatz zu den etablierten Medien mit ihrer Zeit- oder Platzbeschränkung. meist üblich ist, Dabei handelt es sich um eine zeitgemässe Form der publizistischen Freiheit, die jedermann verantwortungsbewusst nutzen kann. Die Sozialmedien ermöglichen auch eine Mischung der verschiedenen Medien und erweitern und bereichern das zur Verfügung stehende Lese- und Informationsangebot beinahe ins Unendliche.
 
Dabei muss man sich selbstverständlich bewusst sein, dass alles, was digital verbreitet wird, unter US-Kontrolle steht. Das trifft im Westen weitgehend auch auf die Druckmedien, Radio und Fernsehen und natürlich auch auf Finanztransaktionen zu.
 
Für Publizisten ist es der Normalfall, ihre Meinungen zu verbreiten und dazu zu stehen – immer in der Hoffnung, ihren kleinen Beitrag zu seiner sinnvolleren Weiterentwicklung der Gesellschaft zu leisten.
 
Wir Blogger haben aus einer langen Lebenserfahrung heraus etwas zu sagen und sagen es auch. Nötigenfalls unverblümt.

Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst