Textatelier
BLOG vom: 30.11.2017

Die Krankenschwester und der Autor

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


Vorwort: Im Halbschlaf tauchten einige Bruchstücke eines Films auf, den ich mir vor vielen Jahren angeschaut hatte. Das veranlasste mich, diese tragische Wintergeschichte zu schreiben:

Alex Torman, Schriftsteller, hatte einen Preis gewonnen und wurde zu einer Vorlesung in Edmonton (Kanada) eingeladen. Es schneite schon seit Tagen. Trotzdem beschloss Torman die Rückreise im Auto. Langsam fuhr er weiter heimwärts. In einer engen Kurve rutschte sein Auto über die Böschung in die Tiefe und überschlug sich mehrmals. Sein rechtes Bein schmerzte gewaltig.
Aus der Ferne näherte sich ein Auto. Torman klemmte seine Mappe unter seinen Arm und kraxelte mühsam hoch. Kaum hatte er die Strasse erreicht, schrie und winkte er um Hilfe. Ein alter Landrover stoppte, und eine Frau entstieg dem Vehikel.

“Ich bin mit dem Auto in den Abgrund gestürzt”, erklärte er.

“Sie haben wahrhaft Glück gehabt”, bemerkte sie, “aber Sie haben Ihr Bein verletzt”, stellte sie fest, wie sie ihm ins Auto half. “Ich bin eine ehemalige Krankenschwester aus einer Klinik und wurde, wie alle Jahre, zur Vorweihnachtsfeier eingeladen.”

“Da habe ich nochmals Glück gehabt”, sagte Torman erleichtert. “Können Sie mir eine Ambulanz besorgen?”

“Leider ist die Klinik jetzt geschlossen. Immerhin kann ich inzwischen dein Bein pflegen”, antwortete sie, und fügte hinzu: “Mein Name ist Theresa.”

Kaum hatten sie ihr Haus nach stundenlanger Fahrt erreicht, untersuchte sie sein verletztes Bein und stellte fest: “Du hast dein Bein unterhalb der Kniescheibe gebrochen. Am besten schiene ich den Bruch.”

Theresa gab ihm nachher ein Schmerzmittel und Schlaftabletten. Im Nu hatte sie einen Schlafplatz für Alex auf dem Diwan im Wohnzimmer eingerichtet und wünschte ihm eine gute Nacht.

Anderntags bat er sie nochmals, ihm eine Ambulanz zu bestellen. “Gestattest du mir, meine Familie anzurufen?”

“Leider funktioniert die Leitung nicht nach diesem heftigen Schneesturm”, erwiderte sie. “Am besten bringe ich dir das Frühstück”, sagte sie und ging in die Küche. Sie frühstückten gemeinsam und plauderten. “Ich lebe hier allein im Haus meiner Eltern. Du bist ein Schriftsteller! Jetzt verstehe ich, warum du deine Mappe nicht loslassen wolltest. Warum schreibst du nicht? Das lenkt dich ab, bis wir eine Lösung für dich gefunden haben”, schlug sie vor.
“Warum auch nicht?” willigte er ein.

“Dann kannst du mir deine Texte vorlesen!” Sie schob Kissen hinter seinen Rücken und setzte ein Tablett vor ihm hin. “Jetzt hast du alles, was du zum Schreiben brauchst”, sagte sie und verliess das Zimmer.

Um die Mittagszeit erschien Theresa wiederum. “Du hast kein einziges Wort geschrieben”, sagte sie vorwurfsvoll. “Ich werde dir ein Zimmer im ersten Stock einrichten.” Sie half ihm zum 1. Stock hoch.

Drei Wochen verstrichen. Alex hegte Fluchtgedanken. Ihr Autoschlüssel lag griffbereit beim Hauseingang … Er wollte in der Nacht sein Zimmer verlassen.
Doch sein Zimmer war verriegelt. Er war Theresas Gefangener geworden.

Eines Tages erschien der Postbote. Sollte er um Hilfe schreien? Er presste sein Ohr an die Zimmertüre. Theresa bat den Boten, eine Kiste mit Proviant in den Keller zu bringen. Sie öffnete die Kellertüre. Mit einem gewaltigen Stoss ihrerseits purzelte der Postbote mit der Kiste kopfvoran tief. Hat er sein Genick gebrochen? Theresa schloss die Kellertüre. Todesstille herrschte im Haus.

In der Nacht lockerte Theresa die Bremse des Lastwagens. Lautlos rutschte der Wagen hangabwärts in die nachtdunkle Tiefe und versank ausser Sicht spurlos im Tiefschnee. Es gelang Theresa, die Leiche des ermordeten Pöstlers aus dem Haus zu schleppen, die im Schnee neben dem Lastauto sein Grab fand.

“Was ist gestern geschehen?” schrie Alex.

“Nichts, rein gar nichts, beruhige dich.”

“Warum hast du mich nachts im Zimmer eingesperrt?”

“Du hast meine Gastfreundschaft arg missbraucht. Kein einziges Mal hast du mir vorgelesen!” warf sie ihm vor. “Ich musste dich bestrafen. Du Nichtsnutz.
Du kannst deinen Durst am Wasserhahn löschen. Ich bin nicht auf einen undankbaren Kostgänger angewiesen.” Ihre Stimme überschlug sich schrill.

Dank dem überfälligen Wetterumschlag entdeckte die Polizei Alex' Auto. Vom Fahrer fehlte jede Spur. Auch der Wagen des Postboten wurde entdeckt mitsamt dessen Leiche.

Die Polizei durchsuchte Theresas Haus. Im Zimmer im 1. Stock fand die Polizei Alex ausgehungert und bewusstlos. Die Ambulanz brachte Alex ins Spital. Er war zum Jubel seiner Familie gerettet.

*

Nachwort: Theresa wurde vor einem Jahr fristlos entlassen. Sie hatte die Patienten, besonders Männer, vernachlässigt. Der Prozess dieser schlimmen Geschichte hatte in der Presse viel Staub aufgewirbelt. Theresa wurde in eine Anstalt für Geisteskranke eingeliefert. Dort wird sie den Rest ihres Lebens verbringen.

 


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